Flagge im Sturm
bei dieser Art von Vorwärtsbewegung nicht tragen. Jonathan krallte sich an dem Granit fest und versuchte die Kraft seiner Arme und Schultern einzusetzen. Wie viel Zeit ihm noch blieb, wusste er nicht.
Endlich erreichten seine Hände die oberste Felskante, und als er sich über den Rand hinaufzog, kam ihm flüchtig der Gedanke, wie es sich wohl anfühlen würde, von einer Muskete aus kürzester Entfernung erschossen zu werden.
Der rothaarige Mann auf der anderen Seite des Felsplateaus kniete indessen noch am Boden und stieß den Ladestock in den Lauf seiner Waffe. Als er Jonathan auf sich zuspringen sah, warf er das halbgeladene Gewehr zur Seite und zog einen langen Dolch aus seiner Gürtelscheide.
Im nächsten Moment hielt Jonathan sein Messer ebenfalls in der Hand. Er musterte den anderen Mann und versuchte, dessen Stärken und Schwächen abzuschätzen.
Der grobe Kittel des Fremden war lose gegürtet, sein rotes Haar war wie das eines Wilden geflochten, und an den Füßen trug er alte Ledermokassins. Er war kleiner als Jonathan, wenn auch drahtig, und er war natürlich auch nicht eben erst mit einem verletzten Bein an einem Felshaufen hochgeklettert.
Sein Messer zeigte einen aus einem Knochen gefertigten Griff, und an der Art, wie er es hielt, erkannte Jonathan sofort, dass der Mann damit genauso gut umzugehen verstand wie mit der Muskete. Nun, bald würde er einen Ebenbürtigen kennenIernen!
Es war Sommer, und Jonathan war gerade neun Jahre alt geworden. Als er, nur mit seiner Kniehose bekleidet, auf der Lichtung lag, schmerzte sein ganzer Körper so sehr, dass er dachte, er würde sich nie mehr bewegen können.
Er zog die Knie an und schlang die Arme um seine Brust. Er fühlte klebriges Blut, sein eigenes Blut. Es rann aus den Schnitten, die sich kreuzweise über seine Haut zogen.
„Steh auf, Jon“, befahl sein Großvater zornig. Neben ihm stand ein Indianerjunge in Jonathans Alter, dessen Körper ebenfalls blutverschmiert war, doch er hielt sein Messer noch fest in der Hand.
Der alte Mann stieß Jonathan mit der Stiefelspitze an.
„ Steh auf und kämpfe, verdammt noch mal! Sparhawks sind keine Feiglinge! Du bist sechs Pfund schwerer als Attawan, und trotzdem hast du ihn noch kaum angekratzt. Du bist als Engländer geboren, mein Junge, doch falls du nicht lernst, wie diese roten Kerle, wie dieser Attawan hier, zu kämpfen, dann wirst du dich vor der Zeit in einem englischen Grab wiederfinden. Und jetzt hoch mit dir, du winselndes Milchkind, oder ich zeige dir, wie das geht!
Mit Mühe holte Jonathan seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Am Ende jenes Sommers hatte er von dem Indianerjungen namens Attawan genug gelernt, um bei ihren Kämpfen Sieger zu bleiben, und was er damals gelernt hatte, würde ihm heute von Nutzen sein.
Der Rothaarige tänzelte auf den Fußballen von einer Seite auf die andere. Als er nicht länger warten wollte, sprang er Jonathan an. Dieser riss seinen Arm im letzten Moment hoch und lenkte das Handgelenk des Gegners ab.
Der kleinere Mann war indessen sehr behende. Er drehte sich herum und brachte Jonathan damit aus dem Gleichgewicht. Dessen ganzes Gewicht verlagerte sich auf das verletzte Bein, das daraufhin nachgab. Er fiel flach auf den Rücken.
Der andere Mann hatte also bereits seine Schwäche entdeckt. Diese Erkenntnis und die Angst, die sie begleitete, beeinträchtigte Jonathans Konzentration, die er doch unbedingt zurückgewinnen musste.
Er fühlte den kalten Stein unter seinem Rücken, hörte sein eigenes Keuchen, und war das nicht Demaris’ Stimme, die seinen Namen rief? Nein, verdammt, das waren zu viele
Ablenkungen! Er versuchte, alles auszuschalten und seine Energien auf das Messer in seiner Hand zu lenken.
Mit einem wilden Schrei warf sich der Rothaarige auf Jonathan, der jedoch diesmal darauf vorbereit war und den Arm des Angreifers packte. Der Fremde bemühte sich krampfhaft, den Griff abzuschütteln. Da Jonathan jedoch in Größe und Gewicht überlegen war, gelang es ihm, den anderen auf den Rücken zu werfen.
Der Mann schlug um sich, vermochte indessen nicht, sich zu befreien, denn Jonathan, den Dolch in der Rechten, drückte ihm mit diesem Arm auf die Brust und hielt ihn damit am Boden gefesselt. Mit der freien Hand drehte er das Handgelenk seines Gegners, bis dieser schließlich sein Messer auf den felsigen Boden fallen ließ.
„Wer hat dich geschickt?“, verlangte Jonathan zu wissen. Aus den Augen des Mannes schlug ihm der unverhohlene Hass
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