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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
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oder wie die Katalogmodells vom Strand zu einem heraufgestarrt hatten, während man im Leuchtturmlift hing.
    Furchtbar auch, wenn man vergessen wollte, wie der Vater auf seinem Totenbett ausgesehen hatte, kahl und auf die Größe eines Kindes zusammengeschrumpft, als sein Atem nach wochenlangem Kampf endlich rasselnd zum Stillstand gekommen war. Wenn man vergessen wollte, dass die eigenen Organe nacheinander versagen könnten oder man im eigenen Bett ertrinken könnte, verursacht durch eine Lungenentzündung. Vielleicht stand aber auch ihr Herz als Erstes still.

V IERZEHN
    »Steh auf! Steh auf, Campbell!« Die Stimme ihrer Mutter stieg von einem ärgerlichen Flüstern zu einem ausgewachsenen Kreischen an, als sie Cam die Bettdecke wegzog. »So etwas machen wir in unserer Familie nicht, hörst du?«
    Cam lag noch im Bett, um schlafend über das Debakel von letzter Nacht hinwegzukommen. Bilder blubberten in ihrem Bewusstsein auf wie Blasen in einem scheußlichen Eintopf aus Erinnerungen: die schwindelerregende Seilbahn … die fassungslosen Blicke der Katalogkids … Alecs straff gespannte Achillessehnen … seine Finger an ihren Jeansknöpfen.
    »Wie spät ist es?« Cam warf einen Arm übers Gesicht, um ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen, das in die Kuppel hereinströmte. Wenn sie im Liegen aus dem Fenster blickte, war es, als würde sie mitten in der Bucht treiben. Um sich herum sah sie nichts als Blau. Verschiedene, wellenförmige Nuancen von Blau, je nach Form und Funktion. Wenn sie noch länger hierblieb, würden ihr bestimmt über hundert Bezeichnungen für Blau einfallen, so wie die Eskimos hundert Bezeichnungen für Schnee hatten.
    »Du meinst wohl, welcher Tag es ist. Du hast den ganzen Samstag verschlafen.«
    »Oh, cool.«
    »Campbell«, sagte Alicia zähneknirschend, »du hast nicht die Zeit dafür, hier oben herumzusitzen und Die Glasglocke von Sylvia Plath zu lesen oder was du sonst machst.« Sie kickte ein paar Sachen durchs Zimmer. »Andere Mädchen können sich den Luxus erlauben, sich in ihrem Unglück zu suhlen. Du aber nicht.«
    »Gehört suhlen nicht irgendwie zur Pubertät? Ich finde, ich sollte die ganze Bandbreite pubertären Verhaltens durchmachen, bevor ich sterbe. Und überhaupt, hieß es nicht, dass dieses Kaff hier mich retten soll?«
    »Campbell«, sagte ihre Mom und setzte sich auf ihre Matratze.
    »Was?«
    »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der gerettet wurde, ohne sich zuerst selbst zu retten.«
    »Oh, ist das von Jesus? Würde sich gut auf einem Kaffee becher machen. Oder einem gestickten Kissenbezug. Wir könnten das vermarkten.«
    »Du wirst das Haus heute verlassen, verstanden?«
    »Ja, Ma’am.«
    Ihre Mutter warf ein Kissen nach ihr, ehe sie wieder die Treppe hinunterstieg.
    Cam hätte ihrer Mutter gern erzählt, dass sie das Haus sehr wohl verlassen und sich dabei »krass« blamiert hatte, wie man hier sagte, aber wie sollte man seiner Mutter beibringen, dass man sich aus einer Scheißegalstimmung heraus von einem unhöflichen französischen Austauschschüler auf einem am Strand liegenden Katamaran hatte entjungfern lassen?
    Es war besser, einfach nachzugeben und aus dem Haus zu gehen, beschloss Cam. Tweety wirkte lustlos und ein bisschen kränklich. Sie konnte ihn zum Tierarzt bringen. Dann hätte sie eine Aufgabe.
    Als sie sich anzog, fiel ihr das Foto ins Auge, das sie bei Lily hatte mitgehen lassen und das nun auf der Eckfensterbank stand. Die Sonne schien von hinten darauf, sodass es aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Sie betrachtete die blassen Gesichter, die beiden Kahlköpfe und das zweifache Zahnpastalächeln. Komisch, aber Lily hatte die Zeit in St. Jude zu einer der glücklichsten in ihrem Leben gemacht.
    Lily war der einzige Mensch, der an sie herankam. Ihr Vater war auch ein bisschen an sie herangekommen, aber er war tot. Ihre Mutter hatte sich früher bemüht, an sie heranzukommen, aber es war ihr zu anstrengend geworden, weshalb sie es aufgegeben hatte. Perry war noch zu jung, um richtig an jemanden heranzukommen. Aber Lily kam an sie heran. Sie brauchten sich nur auf eine bestimmte Art und Weise anzusehen, und schon krümmten sie sich vor Lachen, diesem hilflosen, japsenden, lautlosen Lachen mit aufgerissenem Mund. Ohne Lily war sie vollkommen allein.
    Mit Lily würde sie über gestern Nacht reden können. Sie brannte geradezu darauf, ihr zu sagen, dass sie zwei Dinge von der Flamingoliste gestrichen hatte, aber Erfolgsmeldungen

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