Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
Vom Netzwerk:
Jude. Sie saßen auf Lilys Bett und spielten Risiko, eroberten die Welt von ihrem Krankenzimmer aus. Alicia hatte sie gebeten, ein Foto von ihnen machen zu dürfen, woraufhin sie sich über das Spielbrett hinweg umarmt hatten. Durchsichtige Beutel mit unheilvoll aussehenden Flüssigkeiten hingen an den Tropfständern hinter ihnen, und ihre Arme waren voller blauer Flecken von den vielen Nadeleinstichen. Trotzdem lächelten sie. Ohne Haare konnte man sie beinahe für Schwestern halten.
    Lily hatte den ganzen Rahmen mit silbernen Glitzerherzchen verziert. Sie wusste genau, wie sehr Cam Glitzerzeug jeder Art verabscheute, und hatte es gerade deshalb getan. Cam lächelte. So neckte man nur jemanden, den man liebte.
    Cam fuhr mit dem Finger über die dicken Herzchen, die mit einer Klebstoffpistole an dem Rahmen angebracht waren. Sie atmete tief aus, und es war, als hätte sie über lange Zeit die Luft angehalten.
    Das Nächste, was sie in die Hand nahm, war ein Comicbuch. Nicht irgendein Comicbuch. Chemoselma und Tumortilly erobern Manhattan , vollendet von einer echten Comiczeichnerin und in einen Hochglanzeinband gebunden.
    Cam schüttelte den Luftpolsterumschlag noch einmal, und ein letztes Stück Papier fiel aufs Bett. Sie erkannte das Hello-Kitty-Totenkopfemblem sofort – Lilys persönliches Briefpapier. Schon Lilys Handschrift auf dem Umschlag zu sehen, die zittriger war als normal, ging beinahe über ihre Kräfte.
    Cam konnte ihn nicht öffnen. Sie würde sich das für ein anderes Mal aufsparen. Fürs Erste lehnte sie sich nur zurück und sank tief in das Deckbett, umgeben von ihrer Wunderpost.
    Cam trug den gelben Homer-Eimer an den Strand. Eigentlich war es ein Baustellenkübel für Mörtel, von der Sorte, wie sie die Stadtkids gern als Trommeln benutzen. Sie drehte ihn um und setzte sich darauf, drückte ihn tief in den Sand. Dann schlug sie die Beine übereinander und steckte die Hände in die Taschen ihres Hoodies, verkroch sich richtig darin, um sich vor der steifen Brise zu schützen.
    Sie gewöhnte sich langsam an den Sand und die Salzluft. Das Klima war gut für ihre Haare, die jetzt, da sie aufgehört hatte, sie kurz zu scheren, voll und glänzend aussahen. Sie waren unglaublich schnell gewachsen und reichten schon bis zum Kinn. Ihre Haut war klar und rein, nicht fettig und von all dem Dreck verstopft, der sich in den Poren festsetzte, wenn man in der trüb-feuchten Luft der Sümpfe lebte. Hier bekam man quasi ein Dauerpeeling.
    Cam holte die Flamingoliste aus der Sweatshirt-Tasche. Nach Lilys Tod erschien es ihr angebracht, Bilanz zu ziehen und sich einen Überblick darüber zu verschaffen, was sie in ihrem jungen und wahrscheinlich sehr kurzen Leben erreicht hatte.
    Sie faltete die Liste auseinander und las ihre eigene, in der entspannten Stimmung des Sommerlagers flüssige Hand schrift. Das Papier flatterte im Wind.
Meine Unschuld auf einer Fassbierparty verlieren ✓
Mir das Herz von einem Arschloch brechen lassen ✓
Mich in Selbstmitleid wälzen, Trübsal blasen, schmollen und den ganzen Samstag verschlafen ✓
Einen brenzligen Moment mit dem Freund meiner besten Freundin erleben ✓
Aus einem Ferienjob gefeuert werden ✓✓
Kühe umschubsen spielen Vergleichbar mit einer Eselentführung – ✓
Die Träume meiner kleinen Schwester zerstören ✓
Mich ein wenig in harmlosem Stalking versuchen ✓
Mit Ladendiebstahl im kleinen Stil experimentieren ✓
    Cam lachte beinahe lauthals. Ohne sich groß anzustrengen, hatte sie jeden albernen Vorsatz auf der Liste ausgeführt, genau wie es in Lilys Buch vorgesehen war.
    Sie wusste nicht, ob sie belustigt oder beschämt sein sollte. Hätte sie gewusst, dass das mit der Liste so einfach funktionieren würde, hätte sie sich womöglich ehrgeizigere Ziele gesetzt. Was wäre wohl passiert, wenn sie geschrieben hätte: Den Hunger in der Welt beseitigen oder: Den Klimawandel rückgängig machen ? So hatte sie nur das Ziel erreicht, ein normaler, unglücklicher Teenager zu werden, wobei das Schlüsselwort unglücklich war. Sie war froh, dass Lily ihre Liste nie zu Gesicht bekommen hatte.
    »Hallo.«
    Cam zuckte zusammen. »O Mann, jemand sollte dir mal ein Glöckchen umhängen.«
    »Tut mir leid. Was machst du da?« Asher trug eine Khakihose und ein dunkelblaues, kariertes Hemd über einem weißen T-Shirt.
    »Ich sitze hier nur so rum.«
    »Was ist das?«, fragte er und zeigte auf die Liste.
    »Nichts. Nur mein Lebenswerk.« Cam stopfte die Liste wieder in ihre

Weitere Kostenlose Bücher