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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
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Kapitän mit ihrer rotgesichtigen Natürlichkeit für sich. Gleich würde er Liesl die Gitarre abnehmen und Edelweiss singen. Das war Lilys Lieblingsstelle gewesen – neben dem würdevollen Abschiedsgruß unter Tränen der Baronin auf dem Balkon natürlich. Lily und sie fanden die Baronin Schröder beide toll. Nach ihr war auch Lilys imaginäre Punkband benannt.
    Der Gedanke daran, dass Lily für immer fort war, machte Cam fertig. Es war, als wäre ihre Seele, wenn man denn an so etwas wie eine Seele glaubte, mit einem teuflischen Staubsauger aus ihrem Körper gesaugt worden.
    Sie hatte sich noch nicht einmal von ihr verabschieden können.
    Cam dachte wieder an den nächtlichen Regenbogen. Sie wollte es sich verbieten, ihn für ein Zeichen zu halten, eine letzte Botschaft von Lily, mit der sie ihr mitteilte, dass alles gut werden würde. Im Grunde wusste sie, dass er eine von den Tabletten hervorgerufene Halluzination gewesen sein musste. Aber er war ihr so wirklich vorgekommen, und Lily hatte ihn vor einem Jahr genauso beschrieben, als sie darüber sprach, was sie sehen würde, wenn sie starb. Diese leuchtenden Farben, diese blendende Helle vor dem Mitternachtshimmel.
    Kapitän von Trapp weigerte sich, die Hakenkreuzfahne in der Eingangshalle aufzuhängen. »Wie ungeschickt von mir, das war als Anklage gemeint«, sagte er zu dem schleimigen Nazi-Mitläufer. Noch einer von Lilys Lieblingssätzen.
    Es war seltsam, aber Lily fühlte sich irgendwie sehr nahe an. Näher als zu der Zeit, als sie noch auf dem Planeten weilte. Cam spürte geradezu, wie sie sich in diesem Bett an sie schmiegte. Das gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit und – wagte sie es zu sagen? – Hoffnung. Und es nahm ihr ein wenig die Angst.
    Julie Andrews brachte dem Österreicher Kurt gerade einen Ländler bei, da wurden sie vom Kapitän unterbrochen.
    Möglicherweise verschwanden Menschen nicht ganz und gar, wenn man an sie dachte. Das klang zwar abgedroschen, aber es gab auch eine wissenschaftliche Erklärung dafür. Geht man davon aus, dass Gedanken Energie sind und Energie gleich Masse oder Materie ist – E=mc2 – und Materie stets erhalten bleibt, dann kann ein Mensch einen nicht völlig verlassen, es sei denn, man hört auf, an ihn zu denken. Alles, was man mit einem bestimmten Menschen geteilt hat, ist immer noch da und wirbelt im Universum herum. Liebe, musste Cam einräumen, gab es offenbar wirklich. Und die Liebe bleibt. Beziehungen bleiben. Denn Gedanken sind Energie, Energie ist Materie, und Materie bleibt erhalten.
    Cam brauchte frische Luft.
    Sie ging hinaus auf ihren Balkon und blickte durch das Teleskop. Es war kurz vor elf, daher richtete sie es direkt auf die graue Hafenmauer hinter dem Hummerzwinger, wo Smitty gleich seine tägliche Schwimmrunde beginnen würde. Jeden Tag tauchte er in seiner dunkelblauen Badehose aus dem Hintereingang des Restaurants auf und hielt sich seinen großen pelzigen Bauch, während er zum Ende des Anlegestegs ging. Er sprang hinein, schwamm zu einer Boje draußen in der Bucht und schwamm wieder zurück. Wenn er sich aus dem Wasser stemmte, war der Bauch so gut wie verschwunden. Nicht, dass er plötzlich einen Waschbrettbauch gehabt hätte, das nicht, aber das Wasser hatte ihn irgendwie verändert.
    Sie suchte den Friedhof, schwenkte hinüber zu den Gräbern auf dem Hügel und betrachtete die dunkelgrauen Grabsteine, die aus dem Boden ragten wie versteinerte Zungen. Zenobia Drake McClellan, 1895–1995 . Allastair Dubois, 1907–2007 . Amanda Hawthorne, 1887–1987 . Fast alle der geliebten Schwestern, Brüder, Mütter und Väter auf dem Friedhof von Promise, mit der bemerkenswerten Ausnahme von Lisa und Thomas Whittier, 1955–1994 , waren genau hundert Jahre alt geworden.
    Vielleicht war dieser Ort doch ein wenig seltsam. Sie würde zwar nicht so weit gehen, ihn »verzaubert« zu nennen, aber seltsam war er schon.
    »Post für dich!«, schrie Perry. Sie hatte strikte Anweisung, Cam in Ruhe zu lassen, daher kam sie nicht wie sonst zu ihr heraufgetrampelt, sondern warf ein großes Päckchen die Wendeltreppe herauf, das mit einem Knall auf der obersten Stufe landete.
    Cam starrte auf den braunen gepolsterten Umschlag. Die Handschrift darauf kannte sie nicht. Siehst du , dachte sie, seltsam . Eigentlich konnte niemand wissen, wo sie zu erreichen war. Niemand hatte diese Adresse. Sie riss den Umschlag auf.
    Ein vertrauter weißer Bilderrahmen fiel auf ihr Bett. Es war das Foto von ihr und Lily in St.

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