Flamme der Freiheit
diesem Elend ein Ende setzte. Seltsamerweise war er pünktlich zu Jeans Beerdigung von seinem Regiment oder von einer Jagd, das wusste man bei ihm niemals so genau, zurückgekehrt. Zu aller Erstaunen hatte er am Grab des alten Dieners sogar eine ergreifende Rede gehalten, bei der kaum einem der Bediensteten die Augen trocken blieben. Auch Eleonora musste mehrmals schlucken und nahm dankbar ein ihr von Madame Hortense diskret zugestecktes Spitzentüchlein entgegen. Es roch nach Lavendel. Und prompt stieg in ihr die Erinnerung an die heißen unvergesslichen Sommer auf Schloss Sophienhof empor. Wie oft hatte sie von ihrem Fenster aus Jean würdig über den Kies der Auffahrt Richtung Stallungen schreiten sehen, um dort den Kutschern etwas auszurichten oder eine Anweisung zu erteilen.
Wie liebevoll hatte er sie nach ihrer Ankunft im Prewitzschen Haushalt unter seine Fittiche genommen und sie unauffällig über all die Stolpersteine des Weges hinweg in ihr neues Leben geleitet. Er war mehr als nur ein alter Diener gewesen, er war ihr ein väterlicher Freund und Beschützer, so wie Gräfin Dorothea der Vertraute längst vergangener Jugendzeiten. Nur mit ihm hatte sie in Erinnerungen an alte Zeiten schwelgen, mit ihm über ihre bereits vor Jahrzehnten verstorbenen Eltern sprechen können oder die Marotten eines kauzigen Onkels, dem die kecke junge Dorothea so manch übermütigen Streich spielte, der schon mehr als ein halbes Jahrhundert unter der Erde ruhte. So war es nur begreiflich, wenn sie nun tief um ihren alten Vertrauten trauerte.
»Bei allem Verständnis, meine liebe Dorothea«, sagte ihr Gatte Ludovic dennoch eines Tages zu ihr. Um in ihr Schlafzimmer zu gelangen, hatte der Graf förmlich um eine Audienz bei Frau Gemahlin bitten müssen, die sie ihm gnädig gewährte. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen lief er unruhig in dem Raum auf und ab. Er fühlte sich sichtlich unwohl in dieser weiblichen Umgebung. Eleonora, die gerade von einer Musikstunde bei Schilling zurückgekehrt war und auf einem Stuhl neben dem Bett der Gräfin schon zum Vorlesen Platz genommen hatte, beobachtete ihn verstohlen.
Es ist ihm schon wieder zu eng in der Stadt geworden, stellte sie fest. Es zieht ihn bereits wieder in die Ferne. Eher zur Jagd als zu seinem Regiment, vermutete sie. Graf Ludovic von Prewitz zu Kirchhagen war zwar ein tüchtiger preußischer Offizier, hatte aber niemals ein Hehl daraus gemacht, die Jagd mehr als das Kriegshandwerk zu lieben. Nur dass der Krieg mittlerweile in bedrohliche Nähe gerückt war.
»Ich fürchte, dieses Jahr der Einladung des Herzogs von Kurland nicht Folge leisten zu können«, sagte Graf Ludovic jetzt auch und seufzte mitleiderregend. Gräfin Dorothea nickte nur. »Dieser freche kleine Korse ist mir lästiger als eine Laus im Pelz«, schimpfte ihr Mann lauthals. Was wohl der große Imperator zu diesen Worten sagen würde, überlegte Eleonora und blätterte geistesabwesend in dem Buch in ihren Händen. Was hatte sich Gräfin Dorothea denn heute zum Vorlesen ausgesucht? Einen Gedichtband? Ihre Augen blieben an ein paar Zeilen hängen. »Ode an die Stadt Berlin« hieß das Gedicht.
»Ich sah sie! (mir zittern die Gebeine!)
Ich sah, bekümmertes Berlin,
Die Göttin deines Stroms vor deinem Tannenhaine
Mit ihren Schwänen ziehn.«
»Was liest du da?«, unterbrach Gräfin Dorothea ihre Lektüre.
Eleonora suchte nach dem Namen des Verfassers, fand ihn aber nicht unter dem Gedicht.
»Lies einen Vers vor!«, befahl Gräfin Dorothea.
Eleonora las.
»›Mit ihren Schwänen ziehn‹«, fiel ihr die Gräfin am Ende der Strophe ins Wort und fuhr fort:
»›Borussiens gerechter Held soll siegen!
Die Götter schützen ihren Sohn.
Bald wird er im Triumph zu seinen Kindern fliegen.
Er kömmt! Ich seh ihn schon!‹«
Eleonora lauschte still der immer noch klaren Stimme der Gräfin. Auch Graf Ludovic unterbrach seinen nervösen Marsch kreuz und quer durch das Schlafgemach seiner Gattin. Mit gerunzelter Stirn und leicht gesenktem Kopf hörte er zu.
»Hast du es erkannt?«, erkundigte sich Gräfin Dorothea. Graf Ludovic schüttelte den Kopf.
»Mitten im Siebenjährigen Krieg hat er diese Ode an Berlin geschrieben, Karl Wilhelm Ramler. Kannst du dich nicht an ihn erinnern? Man nannte ihn auch den deutschen Horaz«, wandte sie sich nun erklärend an Eleonora. »Und seine Verse haben uns damals in den harten Zeiten des Siebenjährigen Krieges sehr viel Trost und Aufmunterung
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