Flamme der Freiheit
Notenstapel und das Umschlagpapier nach einem Begleitschreiben. Einzig und allein das Siegel hätte ihr Aufschluss über den Absender geben können, aber sie hatte es ja erbrochen. Sie griff nach der Verpackungsschnur, an der noch ein paar rote Lackreste baumelten, und versuchte das Siegel wieder zusammenzusetzen. Es dauerte ein Weilchen, aber dann war es nicht mehr zu leugnen. »Das ist doch das Wappen des preußischen Königshauses«, stellte sie erschrocken fest. Sie schlug die Hand vor den Mund und starrte stumm auf das von ihr in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammengesetzte Siegel.
Es gab nur ein Mitglied der königlichen Familie, das ihr diese Partitur gesendet haben konnte. Eleonora erhob sich, faltete das Papier mit den Lackresten zusammen und knickte es etliche Male um. Sie zog die Schublade ihrer Kommode auf und verstaute das kleine Päckchen auf deren Grund, genau unter das weiche Gewebe der Stola, die sie am Abend ihrer Premiere als Eurydike getragen hatte.
»Du hast heute Post bekommen?«, erkundigte sich Gräfin Dorothea am selben Abend beim gemeinsamen Essen.
Sie waren nur zu zweit. Die Anzahl der Sommergäste würde sich auch in den kommenden Wochen nur in einem sehr begrenzten Rahmen halten. Unabhängig voneinander hatten die beiden Enkelinnen ihre Ankunft auf später verschoben. Sohn Wilhelm war gleichfalls einberufen worden. Ohne den Schutz ihres Ehemannes mochte sich Gräfin Elisabeth nicht in die Nähe ihrer Schwiegermutter begeben, sondern zog einen Besuch bei einer Schwester in Breslau vor, während Graf Ludovic in Hannover weiterhin unabkömmlich war. Aber er hatte seinen Besuch für den kommenden Juli ganz fest in Aussicht gestellt.
»Es soll ja ein richtiges Paket gewesen sein«, fuhr Gräfin Dorothea fort und rührte etwas zu beiläufig in ihrer Spargelcremesuppe.
Als zweiten Gang würde es Spargel mit neuen Kartoffeln geben. Das traditionelle Frühlingsgericht nach der Ankunft auf Sophienhof. Selbstverständlich alles aus eigenem Anbau. Eleonora hatte heute Morgen Emma und Paula beobachtet, wie sie barfuß und laut singend hinunter zum großen Gemüsegarten gelaufen waren, an dessen Ende sich auch ein Spargelbeet befand. Es war der ganze Stolz von Babette. Mit Argusaugen wachte sie darüber, dass der frische Spargel auch richtig gestochen wurde. Sie hatte die beiden Mädchen eigens gelehrt, sich vorsichtig den herauslugenden Köpfen zu nähern.
»Was war denn in dem Paket?«, wollte Gräfin Dorothea wissen und schaute konzentriert auf ihren Suppenlöffel. Mit spitzen Lippen pustete sie darauf, bis sich die Oberfläche der Suppe kräuselte.
Eleonora schwieg.
»Willst du es mir nicht verraten?«
Eleonora gab keine Antwort.
»Seit wann hast du Geheimnisse vor mir?« Nun schien die Gräfin wirklich verwundert.
»Es waren Noten«, entgegnete Eleonora knapp.
»Noten?«, wiederholte die Gräfin. »Wer schickt dir denn Noten?« Sie begann wieder in ihrem Suppenteller zu rühren. »Hat dir Schilling ein paar Noten nachgeschickt?«
Eleonora schwieg.
»Was waren es denn für Noten?« Die Gräfin konnte ganz schön hartnäckig sein. »Magst du es mir wirklich nicht verraten?«
»Es ist die Orchesterpartitur für eine Oper mit den Noten für eine Singstimme«, rang sich Eleonora ab.
»Und um welche Oper handelt es sich dabei? Soll ich raten?«, versuchte sie es nun von der anderen Seite. Eleonora blickte auf und sah ihr in die Augen. Tiefe Zuneigung las sie in den Zügen der Gräfin, aber es zuckte auch ein bisschen mokant um ihre Mundwinkel. Dieses kleine Geplänkel war so recht nach ihrem Geschmack. »Ist es die Partitur von
Fidelio?
«, riet sie.
Eleonora nickte.
»Und wer hat sie dir geschickt? Es kann doch eigentlich nur Himmel oder Schilling gewesen sein«, spekulierte sie. »Oder?«
Wortlos löffelten sie ihre Suppe aus und warteten dann, bis Paula den zweiten Gang serviert hatte.
»Der Spargel ist wirklich köstlich«, stellte Gräfin Dorothea fest. »Keiner bekommt die Sauce hollandaise so perfekt hin wie unsere Babette.«
»In der Tat, und am besten schmeckt sie hier auf Sophienhof«, pflichtete ihr Eleonora bei. »Das liegt bestimmt an unserer selbstgemachten Butter.«
»Hast du wirklich unsere gesagt?« Die Gräfin lachte hellauf.
»Verzeihung, Erlaucht, das war wirklich anmaßend von mir«, entschuldigte sich Eleonora sofort.
»Aber mein liebes Kind, das ist nicht anmaßend. Nach so vielen Jahren hier bei uns im Hause ist es doch ganz natürlich, dass du dich
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