Flamme der Freiheit
unberechenbaren Wutausbrüchen hinreißen konnte. Sie liebte auch ihre beiden »Seelenschwestern«, wie sich Sophie und Charlotte mit der romantischen Überschwenglichkeit ihrer jungen Jahre nannten. Aber am meisten liebte sie wohl die Gräfin, nein, Gräfin Dorothea liebte sie nicht nur, diese verehrte, ja, vergötterte sie. Ihrer hochmütigen Schwiegertochter Elisabeth hatte sie im Lauf der Jahre gelernt aus dem Weg zu gehen. Die bemühte sich ohnehin, sie zu ignorieren. Ein schier unmögliches Unterfangen, hallte doch der Klang von Eleonoras glockenklarer Stimme seit Jahr und Tag durch die hohen Gemächer des Berliner Stadtpalais oder von Schloss Sophienhof.
Zu den männlichen Mitgliedern der Familie hatte Eleonora kaum eine Beziehung entwickelt. Wie einst sein Schwiegervater zog auch Graf Ludovic die Gesellschaft seiner Offiziere und Soldaten vor, anstatt an der Seite seiner musisch interessierten Gattin zu weilen. Alexander August war gleichfalls für die militärische Laufbahn bestimmt. Ob er nach dem Vater schlug?
Wie überrascht war Eleonora gewesen, als ihr der Maestro vor zwei Wochen eröffnete, dass der junge Graf die Partie des unglücklichen Orpheus singen würde. Da bislang kein einziger Sänger für »la Signorina Nora« gut genug gewesen war, hatte sich Farini wochenlang mehr oder minder mit ihr durch die Glucksche Partitur gekrächzt. Sehr zur heimlichen Verzweiflung seiner jungen Partnerin.
Farini liebte seine »Signorina Nora« heiß und innig. Unauffällig hatte er die verunsicherte Zwölfjährige die ersten Wochen und Monate nach ihrer Ankunft durch die Klippen und Unabwägbarkeiten ihres neuen Lebens auf Neu-Prewitz geleitet. Das würde Eleonora ihm niemals vergessen. So akzeptierte sie unwidersprochen seine Autorität und damit auch seinen schrecklichen Gesang.
Eleonora reckte und streckte sich noch einmal, band ihre auf die Schultern fallenden blonden Locken mit einem seidenen Band zusammen, trat an die hohe Fensterfront und schob die Vorhänge beiseite. Gleißendes Sonnenlicht füllte den Raum. Sie stieß die beiden Fensterflügel auf und lehnte sich weit hinaus. Was für ein wunderschöner Tag. Wie geschaffen für eine Theateraufführung unter freiem Himmel. Hinter einer hohen Hecke am Ende des Parks schien das Orchester bereits auf der Freilichtbühne zu proben. Nur verzerrt drangen die barocken Melodiefolgen bis zu ihr durch. Aber dann erkannte Eleonora ihr Motiv. Spontan summte sie mit, zunächst verhalten, schließlich mit der ganzen Kraft ihrer Stimme.
»Brava, brava«, ertönte begeistertes Lob zu ihr empor. Aber es kam nicht von Maestro Farini. Es dauerte ein bisschen, bis Eleonora den jungen Graf zu ihren Füßen entdeckte. Seit Tagen machte dieser sich einen Spaß daraus, Akzent und Gebaren des kleinen Italieners zu imitieren. Sehr zum Vergnügen seiner jüngeren Schwestern und natürlich auch Eleonoras. Jetzt stand Alexander unten auf der Terrasse, legte die Hand schützend vor die Augen und schaute lächelnd zu ihr empor. »Cara Signorina Nora, que bella voce, una voce italiana!«, rief er nach oben.
Jemanden einer italienischen Stimme zu rühmen war das größte Kompliment, das Maestro Farini zu vergeben hatte. Bei Eleonora tat er es gerne und immer wieder.
»Grazie, grazie«, bedankte sich diese und knickste. Der junge Graf grinste und machte einen altmodischen Kratzfuß. Übermütig warf er ihr einen Handkuss zu. Eleonora schoss das Blut in die Wangen.
Obwohl er es aus dieser Entfernung gar nicht mitbekommen konnte, zog sie sich rasch vom Fenster zurück. Warum war sie auf einmal so verlegen? Warum klopfte ihr Herz plötzlich so viel schneller als sonst? Seit Tagen irritierten ungewohnte Regungen und unbekannte Gefühle sie. Lag es an der Anwesenheit des jungen Grafen?
Wie ein Wirbelwind war der Sohn des Hauses vor zwei Wochen in das geruhsame Leben des Sophienhofs eingebrochen. Als junger preußischer Offizier hatte er im Heer der befreundeten Österreicher an der Schlacht von Marengo teilgenommen. Im Februar 1801 waren im Frieden von Lunéville die zuvor getroffenen Vereinbarungen des Friedens von Campo Formio endgültig bekräftigt worden. Unbarmherzig lauteten sie: Abtretung des gesamten linksrheinischen Gebietes an Frankreich. Eine Folge, mit der sich der junge Graf nicht abfinden konnte und schon gar nicht abfinden wollte. Aus dieser seiner Meinung machte er auch kein Hehl, im Gegenteil. Tagelang verwickelte er sich in erhitzten Debatten mit seinen Eltern und
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