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Flamme der Freiheit

Flamme der Freiheit

Titel: Flamme der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgid Hanke
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weiterzulaufen. Sie ging geradeaus, in der Hoffnung, irgendwann doch noch auf ein Zeichen der menschlichen Zivilisation zu stoßen. Und um diese Hoffnung nicht zu verlieren, begann sie zu beten.
    Irgendwann konnte sie jedoch nicht mehr. Kraftlos ließ sie sich zu Boden sinken. Der Boden war weich und feucht. Es roch immer noch nach Laub, nasser Erde und modrigem Wasser. Eleonora tastete mit den Händen um sich herum. Ihre Finger erkannten eine rauhe Borke, die zum dicken Stamm eines riesigen Baums gehörte. Sie lehnte sich daran, schloss erschöpft die Augen und zog Gräfin Dorotheas Zobel ganz fest um sich. Wie gut, dass es genau dieser Mantel gewesen war, den sie bei ihrer überstürzten Flucht in der Eingangshalle vom Bügel gerissen hatte. Sie barg ihre kalten Hände in den Tiefen seiner Taschen. Ihre Rechte ertastete ein Stück Papier. Sie brauchte nicht zu raten, es war das Deckblatt von dem Requiem, das sie zu Gräfin Dorotheas Trauerfeier im französischen Dom gesungen hatte. Nach der Aufführung hatte sie es sich von dem Komponisten, ihrem Lehrer Balduin Schilling, noch signieren lassen. In der Aufregung der folgenden Wochen und Monate musste sie es vergessen haben. Jetzt war es feucht und zerknüllt, wahrscheinlich auch Schillings geschwungene Unterschrift mit dem Datum inzwischen zerflossen und unleserlich geworden. Eleonora konnte sich nicht mehr gerade halten, ihr Kopf fiel zur Seite auf ihre Schulter, als sie entkräftet einschlief. Zum Weinen war sie viel zu erschöpft.
    Im Morgengrauen kam sie wieder zu sich, weil sie erbärmlich fror und von ihrem eigenen Zähneklappern wach geworden war. Mit steifen Gliedern erhob sie sich schwerfällig, versuchte ein wenig auf der Stelle zu hüpfen, schlug wie ein Kutscher beide Arme um sich und rieb sich die Hände. Sie fühlte sich hundeelend. Am liebsten hätte sie geweint. Aber sie beherrschte sich. Heulen brachte sie nicht weiter. Stattdessen schleppte sie sich mühselig vorwärts. Aufatmend entdeckte sie einen unbefestigten Feldweg, der an den Rand eines kleinen Dorfs zu führen schien. Stand da in der Ferne nicht sogar ein Haus? Mit zusammengekniffenen Augen ließ sie den Blick über die Horizontlinie wandern. War das nicht ein Dach, aus dessen Schornstein sich eine kleine Rauchwolke kringelte? Vielleicht bot sich dort Hilfe? Eleonora machte sich auf den Weg. Sie erschrak fast zu Tode, als plötzlich ein riesiger zotteliger Hund vor ihr stand und sie mit gefletschten Zähnen anknurrte.
    »Ich tue dir nichts«, sagte Eleonora mit klappernden Zähnen.
    Der Hund knurrte weiter, wich nicht beiseite, machte aber auch keine Anstalten, sie anzufallen.
    Hinter sich hörte Eleonora nun auch Schafe blöken, und ehe sie sichs versah, war sie von einer riesigen Herde weißer und brauner Schafe umgeben. Die Lautstärke ihres Geblökes war wohl eine Bekundung ihres Missfallens. Nun begann auch der Hund zu bellen. Was für ein unerträglicher Lärm. Es war zu viel für Eleonora; Schlafmangel, Kälte, Hunger und nun auch noch ein fast unerträglicher Durst, dazu jetzt der Schreck, all dem waren ihre Nerven nicht mehr gewachsen.
    »Hört auf, hört auf, bitte hört auf, ich kann es einfach nicht ertragen!«, schrie sie verzweifelt und schlug die Hände vors Gesicht. Sie wollte es eigentlich nicht, aber sie konnte das aus der Tiefe ihres Körpers aufsteigende Schluchzen nicht mehr bändigen.
    Ein scharfer Pfiff ertönte. Schlagartig hörte der Hund auf zu bellen. Stattdessen begann er die Schafe voranzutreiben. Er kreiste die Herde ein, ein kurzer Kläffer hier, ein unnachgiebiger Schubs da, ein angedeuteter Biss in ein Hinterteil dort, und schon machte sich die Herde mit lautem Geblöke auf den Weg. Durch den Schlitz ihrer vorgehaltenen Finger verfolgte Eleonora diesen erstaunlich geordneten Abzug. Unerwartet stand der Schäfer vor ihr, ein alter Mann mit einem riesigen, tief in die Stirn gezogenen Hut und einem dicken Lodenumhang.
    »Was haben wir denn da für einen seltsamen Vogel?«, sagte er. Es klang eher gelassen als neugierig und überhaupt nicht bedrohlich. So nahm auch Eleonora die Hände vom Gesicht und fingerte in den Taschen ihres Pelzmantels, aber ihre Suche war vergeblich.
    »Hier«, sagte der Schäfer und reichte ihr ein riesiges rotkariertes Schnupftuch.
    Eleonora nahm es, tupfte sich die Tränen ab und schneuzte herzhaft hinein. Sie legte es wieder zusammen und wollte es ihm zurückgeben.
    »Behalt es, sieht ganz so aus, als könntest du es gebrauchen«,

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