Flamme der Freiheit
Spaziergänge im Tiergarten.
Niemals hätte Gräfin Dorothea ihr dieses stundenlange Promenieren ohne Begleitung im Berliner Tiergarten erlaubt. Ihrem Sohn und dessen Frau war das gleichgültig. So wie sie ihnen insgesamt egal war, nahm Eleonora fälschlicherweise nach dem Tode ihrer mütterlichen Freundin an. Welch ein törichter Irrtum dies war, hatte sie erst durch dieses versehentlich gehörte Gespräch zwischen Gräfin Elisabeth und Graf Wilhelm erfahren müssen. Es war weniger ein Gespräch als ein schriller Monolog, der Eleonora schonungslos die Augen öffnete. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr Gräfin Dorotheas Schwiegertochter sie wirklich hasste. Ein Jahrzehnt lang musste diese ihren Groll, ihre Abneigung, wenn nicht gar Abscheu in sich verschlossen haben, ehe all diese Gefühle schließlich eruptiv zum Ausbruch kamen. Niemals zuvor hatte Eleonoras Mutter im Hause Prewitz Erwähnung gefunden. Eleonora selbst dachte nicht gerne an sie zurück, hatte die Erinnerung an sie fast verdrängt. Man hatte sie schlicht totgeschwiegen, während ihr Vater immer wieder einmal von Gräfin Dorothea erwähnt wurde, sie ihn sogar ein- bis zweimal im Jahr offiziell in das Stadtpalais einlud.
Wie lange hatte sie ihren Vater eigentlich nicht mehr gesehen? Eleonora begann zu grübeln. Ihr letzter Besuch bei ihm in Potsdam lag nun schon über ein Jahr zurück, gestand sie sich beschämt ein. Noch wenige Tage vor ihrem Tod hatte Gräfin Dorothea sie erinnert.
»Meine liebe Eleonora, wenn wir zurück in Berlin sind, ist es an der Zeit, dass du deinen Vater endlich einmal wieder in Potsdam besuchst.« Sie hatte ihr sogar versprochen, ihr einen ganzen Tag Anton als Begleiter zur Verfügung zu stellen, der sie in einer kleinen Kalesche hinausfahren und auch wieder zurückbringen würde. »Das ist mir lieber, als wenn du mit der Postkutsche fährst, denn unser Anton ist ein verlässlicher Beschützer.«
Solch einen Beschützer hätte Eleonora jetzt gut gebrauchen können.
Noch immer wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie versuchte sich zu erinnern, in welche Richtung sie gerannt war, als sie aus dem Prewitzschen Stadtpalais gestürzt war. Aus alter Gewohnheit hatte sie wohl ihre Schritte in Richtung Tiergarten gelenkt. Sie musste ihn in seiner ganzen Länge einmal durchquert und ihn schließlich hinter sich gelassen haben. Irgendwo hörte sie Wasser glucksen. Kam es von einem der künstlich angelegten Teiche? Oder war es schon die Spree? Sie schaute um sich. In diesem Moment riss die Wolkendecke erneut für ein paar Sekunden auf. Diesmal kam sogar ein bleicher Mond zum Vorschein. Sein Licht spiegelte sich auf einer Wasseroberfläche wider, die sich wie ein dunkles Band direkt hinter ihr schlängelte. Das konnte nur die Spree sein. Mit aller Kraft versuchte Eleonora sich zu konzentrieren, um herauszufinden, wo sie sich jetzt befand. Sie musste irgendwo am Rande von Wilmersdorf sitzen.
In den vergangenen Jahren war es Mode geworden, hier, also direkt vor den Toren Berlins, Land aufzukaufen, um sich darauf einen Landsitz zu errichten, wo man die Sommermonate verbrachte. Eleonora versuchte sich zu erinnern, welcher von Gräfin Dorotheas Freunden und Bekannten zu diesem Kreis gehörte. Vielleicht konnte sie ja bei einem der Landhäuser anklopfen und um Hilfe bitten.
Sie erhob sich von der Mauer, auf der sie die ganze Zeit gekauert hatte, schlüpfte wieder in ihre Ballerinas, die sie immer noch in der Hand hielt, und setzte ihren Weg fort. Bei ihrer Flucht hatte sie sich noch nicht einmal die Zeit genommen, ein festeres Schuhwerk anzuziehen. Das musste sie jetzt bitter büßen. Nicht nur, dass ihre Füße eiskalt waren, erst jetzt bemerkte sie, wie zerschunden sie waren. Sie hatte sich Blasen gelaufen und sich neben einigen Abschürfungen eine tiefe Schnittwunde zugezogen. Dann war das wohl Blut, was ihr da gerade so warm über ihren Knöchel lief. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie weiter. Nach über zehn Jahren erwies sich die harte Schule des Potsdamer Waisenhauses jetzt immer noch als ein Vorteil. Als kleines Mädchen hatte sie bereits körperlichen Schmerz kennenlernen müssen und eiskalte Nächte unter der feuchten Muffigkeit schwerer Decken ohne weiteren gesundheitlichen Schaden ertragen. Der Luxus der vergangenen Jahre hatte sie nicht verweichlicht, denn sonst hätte sie diese Nacht nicht überstanden.
Sie war zäh und widerstandsfähig. So zwang sie sich trotz des pochenden Schmerzes in ihrem rechten Fuß stur
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