Flamme der Freiheit
das preußische Königspaar bei Nacht und Nebel, Kälte und Frost über die kurische Nehrung hatte flüchten müssen, mit dem gesamten Hofstaat, den Kindern und immer in Begleitung der getreuen Gräfin von Voss. Die Korrespondenz zwischen ihr und Gräfin Dorothea war jahrelang eine gute Informationsquelle gewesen, um zu erfahren, wie es bei Hofe zuging. Mit dem Tod ihrer Gönnerin war dieser Quell versiegt. Ob in diesen unruhigen Zeiten Gräfin von Voss überhaupt noch die Muße fand, so regelmäßig zur Feder zu greifen.
Nach der anstrengenden Leseprobe der Fichteschen Ausführungen boten die sie überkommenden Erinnerungen willkommene Abwechslung. So bemerkte Eleonora gar nicht, dass sie sich auf den Schreibtischstuhl des Apothekers hatte sinken lassen. Ihr Blick fiel wieder auf die Vorlesungsmanuskripte. Sie beugte sich tiefer darüber, um sie besser studieren zu können. »›… ist das Band, welches zunächst seine Nation, und vermittelst ihrer das ganze Menschengeschlecht innigst mit ihm selber verknüpft‹«, las sie nochmals laut vor. Sie runzelte die Stirn. Was war damit gemeint? Sie erfasste diese Worte nicht. Mit beiden Händen umgriff sie die Armlehnen des Schreibtischstuhls, schloss die Augen und lehnte den Kopf in den Nacken, um konzentrierter nachzudenken. Sie hörte nicht, wie sich jetzt die Tür öffnete, und bemerkte auch nicht, wie zwei ältere Herren bei ihrem Anblick verblüfft auf der Schwelle stehen blieben und sie wortlos anstarrten. Schließlich räusperte sich der eine. Es war der Arzt von Neuruppin und bester Freund des Hausherrn.
»Welch ein entzückender Anblick«, raunte er Apotheker Pistor zu.
Eleonora hatte gar nicht bemerkt, dass sich ihre Köchinnenhaube nach hinten verschoben hatte und damit ihre stets mühsam zu bändigende Lockenpracht zutage trat.
»Was lesen wir denn da Schönes?«, fragte der Arzt nun laut und trat neugierig auf den Schreibtisch zu.
»Christine!«, rief Apotheker Pistor mit scharfer Stimme. »Was fällt Ihnen ein!«
Ertappt sprang Eleonora auf. »Bitte verzeihen Sie, ich bitte vielmals um Entschuldigung, es tut mir so leid, es ist mir überaus peinlich«, sprudelte sie hervor. Sie trat beiseite, strich sich hastig mit beiden Händen die Schürze glatt und steckte ihre Haube wieder fest.
Der Arzt hatte sich bereits über die Unterlagen gebeugt und sie kurz überflogen. »Fichtes
Reden an die deutsche Nation
«, sagte er. »Das haben Sie soeben gelesen?«
Eleonora nickte.
»Und auch verstanden?«, vergewisserte er sich.
»Nun ja, einige Passagen musste ich schon mehrmals lesen. Fichte stellt wirklich einige Ansprüche an das Abstraktionsvermögen seiner Leserschaft«, entgegnete Eleonora ehrlich und höflich zugleich, dabei vollkommen ihren augenblicklichen Status vergessend. Sie wähnte sich bei einer der nachmittäglichen Teegesellschaften in Gräfin Dorotheas Salon.
»Christine!« In den Ausruf des Apothekers mischten sich Verblüffung und Ärger zugleich. »Wie kommen Sie dazu, sich an meinen Schreibtischunterlagen zu schaffen zu machen? Das ist eine Unverschämtheit, also ich weiß nicht …« Nun schien er wirklich unmittelbar vor einer Explosion zu stehen.
Im selben Moment brach sein Freund in schallendes Gelächter aus. Verblüfft starrten Eleonora und der Apotheker ihn an.
»Entschuldige, mein Lieber, entschuldige, aber es ist einfach zu komisch, es ist einfach zu komisch.« Er schien sich kaum mehr beruhigen zu können.
»Was ist komisch?«, erkundigte sich sein Freund verärgert.
»Eine Köchin, die Fichte liest und ihn versteht beziehungsweise genauso wenig versteht wie du und ich«, prustete Dr. Semling. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich die Lachtränen von den Wangen. »Hast du mich nicht in deine Bibliothek gebeten, um mir die neuesten Mitschriften deines verehrten Fichte zu zeigen, weil du manchen seiner Ausführungen nicht mehr folgen kannst und mich um eine Exegese meinerseits bitten wolltest?«
Apotheker Pistor nickte überrumpelt.
»Und dann bringt es deine Köchin auf den Punkt, hahaha, eine Bedienstete, die Fichte liest und ihn durchschaut. Hast du gewusst, dass du so eine gebildete Köchin hast, mein lieber Erich?«, erkundigte sich Dr. Semling nun belustigt.
Apotheker Pistor schüttelte wieder den Kopf und ging erneut auf Eleonora los. »Was haben Sie eigentlich in meiner Bibliothek verloren? Es ist eine Unverschämtheit, sich an meinem Schreibtisch zu schaffen zu machen und sich dann noch
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