Flamme der Freiheit
war schon erstaunlich, was ihr Dienstherr hier in der tiefsten Provinz zwischen Brandenburg und Mecklenburg zusammengetragen hatte. Regelmäßig trafen dicke Bücherpakete aus Berlin, Leipzig, Frankfurt oder gar Wien und Paris ein. Apotheker Pistor legte großen Wert darauf, politisch und literarisch immer à jour zu sein, und hütete Neuerscheinungen, aber auch Antiquarisches wie seinen Augapfel. Wie gerne hätte sie sich eines der Bücher einmal ausgeliehen, wagte aber niemals, darum zu bitten.
Als sie nun jedoch das Mokkageschirr auf dem Schreibtisch zurechtrückte, fiel ihr Blick auf einige lose Blätter, die gerade Pistors Lektüre darstellten, denn es lag noch seine Lesebrille darauf. Es mussten Mitschriften einer Vorlesung sein. Eleonora erinnerte sich, was sie bei diversen Herrenabenden im Rauchzimmer an vereinzelten Gesprächsfetzen aufgeschnappt hatte, wenn sie den Honoratioren von Neuruppin noch einen kleinen Imbiss zu später Stunde servierte oder die nächste Flasche Rotspon dekantierte. Der einst gegenüber der Revolution des westlichen Nachbarn aufgeschlossene und den Franzosen so wohlgesinnte Philosoph Johann Gottlieb Fichte war schon häufiger Gesprächsthema gewesen. Über den Inhalt seiner Vorlesungen sprach mittlerweile nicht nur tout Berlin, sondern ganz Preußen und auch die umliegenden Länder. Inzwischen kursierten sogar die Mitschriften seiner Vorlesungen in politisch interessierten Kreisen. Angeblich sollten sie ja demnächst in Buchform veröffentlicht werden. Aber bislang war nur ein loses Manuskript auf dem Schreibtisch des Neuruppiner Apothekers gelandet.
Eleonora schob die Mokkatasse beiseite und begann zu lesen: »Der Glaube des edeln Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde gründet sich demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Eigenthümlichkeit desselben, nach jenem verborgenen Gesetze; ohne Einmischung und Verderbung durch irgend ein Fremdes und in das Ganze dieser Gesetzgebung nicht Gehöriges.«
Eleonora hielt inne und dachte nach. Damit meinte Fichte wohl nicht nur die Besetzung Preußens. Nur wenige Wochen nach dem tragischen Tod des Prinzen Louis Ferdinand, genau zehn Tage nach der verheerenden Niederlage von Jena und Auerstedt war Napoleon mit seinen Truppen in Berlin eingezogen. In panischer Hast hatten zuvor König Friedrich Wilhelm und Königin Luise das Land verlassen und waren über Küstrin nach Memel geflüchtet. Mit ihnen waren Aristokraten, Beamte und Militärs gezogen, voller Angst die einen, gegen ihren Willen die anderen, wie beispielsweise der Leibarzt Hufeland, der fast gezwungen werden musste, in der persönlichen Kutsche der Königin den Weg gen Osten anzutreten. Bis nach Neuruppin war auch der verzweifelte Appell des verbleibenden Gouverneurs von Berlin gedrungen:
»Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ich fordere die Einwohner Berlins dazu auf. Der König und seine Brüder leben.« So hatte Graf von der Schulenburg die Häuserwände in der gesamten preußischen Hauptstadt am 17 . Oktober 1806 beschriften lassen. Zehn Tage später war Napoleon im Triumphzug durch das Brandenburger Tor geritten. Zehntausende von Menschen hatten die Straßen gesäumt. Es waren nicht nur vereinzelte Vive-l’empereur-Rufe gewesen, die an diesem Tag durch die Straßen Berlins erschallten. Dass die verbliebenen Berliner ihre französischen Besatzer feierten, kam der Wahrheit wesentlich näher. Zunächst waren sie etwas verblüfft gewesen über den Anblick der ersten einmarschierenden Truppen, die vorwiegend aus kleinen, unrasierten, zotteligen, dabei umso fröhlicheren Soldaten bestanden, die sich undiszipliniert in wilden Haufen durch die Straßen schoben. Keine Spur von Gleichschritt und Disziplin. Was die Zuschauer am meisten verblüffte, war das keck auf den Felltornistern der Soldaten aufgesteckte Essbesteck. Das sollte die siegreiche Armee des französischen Kaisers sein, die Preußen so tödlich geschlagen hatte? Gar manchem erschien dieser Anblick noch vernichtender als die vorausgegangene militärische Niederlage.
Das änderte sich schlagartig, als die eigentlichen Truppen Napoleons Einzug hielten. Sie biwakierten auf dem Gendarmenmarkt und im Lustgarten, entfachten ein Feuer neben dem anderen und feierten ihren Sieg über Preußen. Diese Freude teilten sie sogar gerne mit den Besiegten. Sie verkauften ihre mitgebrachte Beute.
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