Flamme der Freiheit
ihr keine Fehler unterliefen, dass sie sich nicht versehentlich verriet, und dann? Schon fast bekannt kam es ihr nun vor, als dieses Mal der Pfarrer sie einer nachdenklichen Musterung unterzog.
»Du kannst also Orgel spielen«, stellte er ruhig fest.
»Nein, Orgel nicht«, erwiderte Eleonora der Wahrheit gemäß.
»Ein anderes Instrument, vielleicht Klavier?«, hakte der Pfarrer nach. Er hatte nichts mehr mit dem alten, trauernden Witwer gemein, der seit Wochen geistesabwesend seine Suppe in sich hineinschlürfte, um sich anschließend in sein Studierzimmer zu schleppen. Hellwach blitzten seine blauen Augen hinter der runden Brille hervor, als er auf ihre Antwort wartete.
Aber Eleonora schwieg.
»Christine, warum antwortest du nicht? Spielst du nun Klavier oder nicht?« Wie streng er plötzlich klang. Sein Ton war jetzt genauso unerbittlich wie bei seinen Sonntagspredigten, wenn er oben von der Kanzel seine geharnischten Predigten auf die gesenkten Köpfe seiner Schäfchen niederprasseln ließ.
»Ein bisschen«, gab Eleonora widerwillig zu.
»Dann komm mit!«, befahl er ihr. Er nahm sie einfach beim Arm und zog sie durch das ganze Pfarrhaus, zur Tür hinaus, quer über den Kirchhof hinüber zu der an dessen Ende stehenden Kirche, hinein ins Kirchenschiff und die Treppe hoch zur Empore. Er drückte sie auf die vor der Orgel stehende Bank und zog ein paar Register. »Spiel!«, befahl er. Mit zitternden Händen griff Eleonora in die Tasten und erschrak beim Klang der gewaltigen Akkorde, die so unverhofft durch das Kirchenschiff schallten. »Vergiss deine Füße nicht!«
»Ich habe noch niemals Orgel gespielt, ich weiß gar nicht, wie man sie setzen muss«, wehrte sich Eleonora.
Mit einer Behendigkeit, die sie ihm niemals zugetraut hätte, nahm Pfarrer Behlow neben ihr Platz. Mit beiden Füßen und voller Kraft begann er die hölzernen Pedalen der Orgel zu treten.
»Los, spiel ›Großer Gott, wir loben dich‹!«
Er sagte es nicht, er brüllte es, anders hätte er auch nicht zu ihr durchdringen können. Ein paarmal griff Eleonora daneben, aber dann hatten ihre Finger die passenden Akkorde und schließlich auch die richtige Melodie gefunden. Unerwartet hub Pfarrer Behlow nun auch noch zu singen an. Er hatte einen mächtigen, aber ausgesprochen wohltönenden Bass. Und er sang voller Inbrunst alle Strophen des Chorals, dabei unablässig die Pedale tretend.
»Sing auch!«, befahl er ihr während einer kurzen Atempause. Eleonora räusperte sich. Wie lange hatte sie nicht mehr gesungen? Der Pfarrer stieß sie in die Seite. »Nun sing schon!«
Sie räusperte sich noch einmal und hub zaghaft an. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich freigesungen hatte. Ihr Gesang war nicht zu vergleichen mit dem der vergangenen Jahre, als sie noch regelmäßig Unterricht gehabt hatte. Sie hatte den Eindruck, dass ihre Stimme etwas tiefer geworden war. Oder lag es daran, dass sie völlig außer Übung war? Aber nach einer Viertelstunde, nachdem sie ihre Befangenheit verloren hatte, hatte ihr Gesang wieder etwas von dem Gefühl und dem Wohlklang früherer Jahre. Sie merkte gar nicht, wie lange sie sang. Der Pfarrer blätterte weiter, schlug das nächste Notenblatt auf und nickte ihr befehlend zu. Mal sang er mit, mal lauschte er kopfnickend.
Eleonora vergaß Zeit und Raum. Diese Lieder waren ihr alle so vertraut, waren es doch die alten Kirchenlieder, die man ihr schon im Potsdamer Waisenhaus beigebracht hatte. Aber auch Schilling hatte darauf bestanden, dass sie diese alte Musik in ihrem Repertoire behielt.
Repertoire? Was für ein Wort! Völlig ungewohnt. Seit Jahren hatte sie es nicht mehr benutzt, hatte vergessen, dass sie einmal dabei gewesen war, sich mit Hilfe von Balduin Schilling ein maßgeschneidertes Repertoire zu erarbeiten. Nein, sie hatte es nicht vergessen, sie hatte es verdrängt. So lag auch in ihrem Inneren ganz tief versenkt und verkapselt die Erinnerung daran, wie sie bereits die Partitur von
Fidelio
gelesen und sich auf die Rolle der Leonore vorbereitet hatte. Damals, im Buchenwald von Schloss Sophienhof. Wer hatte ihr die Noten geschickt? Mit aller Macht unterdrückte Eleonora den Gedanken an den Absender des Päckchens, das so unverhofft während ihres letzten Sommers auf Sophienhof eingetroffen war.
Und wer hatte ihr prophezeit, dass es in dem folgenden Herbst keine Premieren am Gendarmenmarkt in Berlin geben würde, dass sie also auch den Gedanken an ihr offizielles Operndebüt vergessen
Weitere Kostenlose Bücher