Flamme der Freiheit
Ihr Buch«, sagte sie und drückte es dem jungen Mann in die Hand. Der nahm es entgegen und wandte ihr sein Gesicht zu. Es war ein junges Gesicht. Das Gesicht eines Kindes?
»Haben Sie vielen Dank. Dann habe ich mich also doch nicht getäuscht, dass auf dieser Bank schon jemand saß«, bedankte er sich mit überraschend tiefer Stimme. »Sie haben sich jedoch so ruhig verhalten, dass ich schon glaubte, mich geirrt zu haben.« Er lächelte ihr zu.
Es war das Lächeln eines Kindes. Aber hatte ein Kind einen solch dunklen Bart? Der junge Mann schaute sie an und schaute sie doch nicht an, denn seine Augen irrten merkwürdig ziellos an ihr vorbei, blieben nicht an ihrem Gesicht haften, suchten nicht ihren Blick, sondern schweiften in die Ferne, um sich im nächsten Moment zu schließen. Der junge Mann war blind, stellte Eleonora erschrocken fest.
»Sie müssen nicht erschrecken«, sagte er. »Ich bin von Geburt an blind und weiß gar nicht, wie es ist zu sehen.«
Eleonora erschrak noch mehr. Konnte er Gedanken lesen? Verstohlen beobachtete sie ihn von der Seite. Erst jetzt bemerkte sie den dünnen Stock, den er bei sich trug. Als er auf sie zugeschritten war, hatte er ihn nicht gebraucht.
»Ich bin in der unmittelbaren Umgebung von Sanssouci aufgewachsen«, erklärte er prompt. »Ich kenne hier jeden Weg, jeden Pfad, jede Bank, jedes Beet, jeden Teich und Brunnen. Meinen Stock gebrauche ich nur in einer mir fremden Umgebung.« Er wandte ihr wieder sein Gesicht zu und lächelte. Dieses Lächeln war herzerweichend.
Aber wenn er blind war, warum trug er ein Buch mit sich herum?
»Leider hat mich mein Vorleser heute im Stich gelassen«, fuhr der junge Mann fort. »Wir waren eigentlich wie üblich hier verabredet, aber er zog es vor, zu einer politischen Versammlung zu gehen. Na ja, diese jungen Studenten sind eben Heißsporne, reden sich lieber die Köpfe heiß, als so einem Langweiler wie mir etwas vorzulesen.« Er lächelte nachsichtig, schob das Buch beiseite, legte den Kopf in den Nacken und hob sein Gesicht der Sonne entgegen.
Was für ein feines Profil er hat, stellte Eleonora fest. Jetzt erst bemerkte sie, dass er so jung nicht mehr sein konnte. Er hatte schon ein paar Falten im Gesicht. An seiner Schläfe entdeckte sie sogar einige feine Silberfäden, die sich durch das dichte Lockengeflecht zogen.
»Ich bin sechsunddreißig!«, sagte er fast ein wenig schadenfroh, als würde er sich bereits auf Eleonoras erneutes Erschrecken freuen.
»Ich will Ihnen zuvorkommen, ja, Sie dürfen mir etwas vorlesen«, fügte er hinzu.
»Woher wissen Sie, dass ich Ihnen das gerade vorschlagen wollte«, stieß Eleonora hervor.
»Wenn man nicht sehen kann, muss man ein anderes, ein ganz besonders feines Gespür für seine Mitmenschen entwickeln«, erklärte er. »Das hat viel mit Feingefühl, aber auch mit Übung und Gewohnheit zu tun. Mögen Sie mir denn vorlesen?«
Eleonora nickte. »Ja, gerne«, fügte sie rasch hinzu.
Er überreichte ihr das Buch. Erst jetzt entzifferte sie seinen Titel:
Correspondance de Frédéric avec Voltaire.
Das hinuntergefallene Buch enthielt also die Korrespondenz zwischen Friedrich dem Großen und dem berühmten französischen Philosophen Voltaire. Wie oft hatte sie Gräfin Dorothea aus diesen Briefen vorlesen müssen. Anfangs von ihr noch in der Aussprache korrigiert, aber schließlich so flüssig, dass sie sogar Gnade vor den Ohren der überkritischen Madame Hortense fand.
»Können Sie mir das überhaupt vorlesen?«, vergewisserte er sich.
Eleonora würdigte ihn erst gar keiner Antwort, sondern holte tief Luft und begann zu lesen. Der Fremde hörte genau zu. Nach wenigen Sätzen verlor sein neugieriges Gesicht seinen angespannt lauernden Ausdruck. Er schloss sogar die Augen, legte den Kopf wieder in den Nacken und gab sich ganz dem Genuss des Zuhörens hin.
Eleonora wusste nicht, wie lange sie gelesen hatte. Irgendwann war ihr der Mund trocken geworden. Sie räusperte sich. Ob sie schon heiser wurde? Diese tiefe Furcht vor Heiserkeit hatte sie bis heute beibehalten, obwohl sie doch schon lange nicht mehr sang.
Der Fremde schwieg lange, als sie geendet hatte. »Sie lesen sehr schön«, sagte er dann.
Eleonora nickte nur und blätterte die Seiten durch.
»Haben Sie denn auch verstanden, was Sie mir da vorgelesen haben?«
»Ja, das habe ich.«
»Könnten Sie mir vielleicht sogar einen Absatz ins Deutsche übersetzen?«, bat er.
Eleonora nickte wieder und begann erneut im Buch zu
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