Flamme der Freiheit
sollte?
Alexander!
Der Gedanke an ihn durchfuhr sie wie ein Messerschnitt. Die Erinnerung überkam sie so unverhofft, dass sie am ganzen Körper zu zittern begann. Sie schlug die Hände vors Gesicht und versuchte sich wieder zu sammeln.
»Christine!«
Eleonora reagierte nicht.
»Christine, was ist denn plötzlich los mit dir? Warum singst du nicht mehr?« Sie spürte, wie ihr die Hände vom Gesicht gezogen wurden. Ein Paar hellblaue Augen unter buschig weißen Brauen schaute sie besorgt an. »Christine, was ist mit dir?«, fragte Pfarrer Behlow.
Erst jetzt wurde Eleonora bewusst, dass er sie meinte. Mit Mühe kehrte sie in die Gegenwart zurück. Sie atmete tief durch, richtete den Rücken gerade und straffte die Schultern.
»Du hast wunderschön gesungen«, sagte er. »Ich hatte bereits geahnt, dass du eine schöne Stimme hast, denn ich habe dich schon ein paarmal in der Küche leise singen hören. Aber all meine Ahnungen hast du soeben weit übertroffen. Wo hast du das gelernt?«
Forschend schaute er sie an. Eleonora schluckte und schwieg.
»Das war nicht die Stimme einer Haushälterin, die sich an ein paar alten Kirchenliedern erfreut«, fuhr Pfarrer Behlow fort. »Was ich da soeben vernommen habe, war eine geschulte Stimme.« Er erhob sich. »Komm, wir gehen hinüber ins Pfarrhaus, da ist es wärmer«, forderte er sie auf. »Du machst uns eine schöne heiße Schokolade oder vielleicht sogar besser für dich eine heiße Milch mit Honig.«
Heiße Milch mit Honig! Wie oft war ihr früher dieses Getränk serviert, manchmal sogar regelrecht aufgezwungen worden, von Babette oder gar von Gräfin Dorothea höchstpersönlich. Eleonora lächelte versonnen.
»Christine!«, rief Pfarrer Behlow sie in die Gegenwart zurück. So wie auf dem Hinweg packte er sie auch jetzt einfach am Arm, zog sie mit sich die Empore hinab ins Kirchenschiff, hinaus durch das Portal, das hinter ihnen donnernd ins Schloss fiel, quer über den Kirchhof Richtung Pfarrhaus.
»Mein liebes Kind, auch wenn es dir scheinen mag, dass ich dir in der vergangenen Zeit wenig Beachtung geschenkt habe, ist dem nicht so«, sagte er, als sie durch die Gräberreihen schritten. »Bei all meinem Kummer und meiner Trauer um meine geliebte verstorbene Frau habe ich trotzdem nicht meine scharfe Beobachtungsgabe verloren.«
Das klang nicht gut in Eleonoras Ohren. Aber es kam noch schlimmer.
Im Haus angekommen, bat Pfarrer Behlow sie nicht nur um eine Tasse Tee und ein paar Kekse, sondern sagte: »Bring auch gleich eine Tasse für dich und ein bisschen Zeit für mich mit.«
Es war liebenswert gemeint, das sah Eleonora an seinen Augen, die sie so gütig anschauten. Aber für sie bedeutete dieses plötzlich erwachte oder erst jetzt offen bekundete Interesse ihres Dienstherrn Gefahr und Bedrohung.
»Christine, von der ersten Minute deines Erscheinens warst du mit einer Aura von Geheimnis umgeben«, hub Pfarrer Behlow an und ließ seinen Löffel in der Tasse klirren. »Ja, ich war vor Kummer und Trauer fast krank, durfte darüber aber trotzdem nicht meine seelsorgerischen Pflichten vernachlässigen. Ich spürte deine innere Not. So gab ich dir diese Stelle und ließ dich in Ruhe.« Er schwieg nachdenklich. »Aber das kann ich nun nicht mehr«, sagte er nach geraumer Weile. Er hob den Blick von seiner Tasse und schaute Eleonora eindringlich an. »Was ist dein Geheimnis, Christine?«
»Ich habe kein Geheimnis«, behauptete Eleonora steif.
Mit einer Handbewegung fegte er ihren Satz beiseite. »Statt darauf hinzuweisen, wie es meine Pflicht als Pfarrer wäre, dass du mit dieser Behauptung gegen die Zehn Gebote verstoßen hast, biete ich dir lieber mein Ohr«, sagte er. Spontan legte er ihr seine Hand auf den Arm. Stumm schaute Eleonora auf sie hinunter. Es war eine große, sehr gepflegte Hand mit vielen Adern und Falten, die Hand eines alten Mannes. »Willst du dich mir nicht anvertrauen?«, insistierte er.
Eleonora schwieg.
»Vielleicht nicht jetzt, aber vielleicht morgen? Magst du noch einmal eine Nacht darüber schlafen?«, schlug er vor.
Eleonora zuckte mit den Schultern. Aber dann erkannte sie, welchen Vorteil sie daraus ziehen konnte. »Morgen vielleicht«, presste sie hervor.
Pfarrer Behlow nickte. »Gut, dann reden wir morgen weiter«, sagte er zufrieden und lehnte sich aufatmend auf seinem Stuhl zurück. »Ich freue mich schon auf das Abendessen. Was hast du dir denn heute wieder Leckeres für mich einfallen lassen«, wechselte er geschickt das
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