Flamme der Freiheit
Fröhlichkeit und Unbekümmertheit sie zwischen diesen Wänden hatte erleben dürfen, hatte sie diese Wohnung trotzdem niemals als ihre eigene betrachtet. Diese Räume waren niemals zu dem Rückzug und dem Zuhause geworden, von dem sie träumte. Sie hatte kein Zuhause. Sie gehörte zu niemandem. Sie war frei, vogelfrei und ungebunden.
Eleonora stand vor dem mannshohen Spiegel des Schlafzimmers, um ihren Hut zu richten und die Schleife unter dem Kinn festzubinden. Aufmerksam betrachtete sie ihr Spiegelbild. Die Augen waren vom Weinen immer noch etwas verquollen, die Nase rot. Nichtsdestotrotz war es eine schöne, junge Frau, die ihr da entgegenschaute, groß, schlank, von einer natürlichen Eleganz, noch unterstrichen durch das schlichte, aber edle Reisekostüm, das sie für die Fahrt angezogen hatte. Sie schaute sich in die Augen.
»Du bist frei, Eleonora«, sagte sie zu sich selbst. »Du verlässt dieses Haus hocherhobenen Hauptes, denn du hast keinen Grund, dich heimlich davonzuschleichen.«
Wie hatte Louis Ferdinand zu ihr gesagt: »Werden Sie eine Leonore und niemals ein braves Lorchen.«
Niemals!
Sie war Eleonora Prohaska, Tochter eines preußischen Feldwebels. Sie hatte einen Grafen geliebt, aber dieser hatte sich ihrer Liebe nicht als würdig erwiesen. Das Schicksal würde seinen wahren Charakter eines Tages offenbaren, hatte Gräfin Dorothea sogar noch nach ihrem Tode gewarnt. Alexander hatte ihr mit diesem abscheulichen Brief heute sein wahres Gesicht gezeigt. Es war kein schönes Gesicht. Sie wollte es nie mehr wiedersehen.
Eleonora nickte sich ermutigend zu und schritt zur Wohnungstür. Sie hatte die Klinke schon in der Hand, als ihr noch etwas einfiel. Sie ging zurück zum Wandschrank und öffnete dessen Tür. Suchend ließ sie die Hände über die darin hängenden Mäntel und Jacken gleiten.
»Da bist du ja«, sagte sie und nahm Gräfin Dorotheas Zobel vom Bügel. »Auf deine Dienste will ich auch weiterhin nicht verzichten.«
»Wo soll es denn hingehen?«, erkundigte sich Oskar, der schon mit der Kutsche vorgefahren war.
»Bitte fahr mich nach Hohenschönhausen«, sagte Eleonora und kletterte behende hoch, um an seiner Seite auf dem Kutschbock Platz zu nehmen.
Einen Moment schaute Oskar sie verdutzt an, dann nickte er nur und schnalzte mit der Zunge. Ratternd fuhr die Kutsche los. Sie waren schon eine ganze Weile gefahren, als Eleonora den runden Korb zu ihren Füßen entdeckte.
»Was ist denn da drin?«, erkundigte sie sich.
»Reiseproviant für die Demoiselle«, verriet Oskar lächelnd.
»Wer hat mir denn noch einen Proviantkorb zubereitet?«, fragte sich Eleonora überrascht.
»Meine Frau«, sagte Oskar stolz.
»Katharina?« Jetzt war sie aber perplex.
»Ja, Katharina, rauhe Schale, weicher Kern!«
»Bitte richte ihr meinen Dank aus«, bat ihn Eleonora gerührt.
In Hohenschönhausen musste Eleonora die nächste bittere Enttäuschung erleben, denn sie traf Hedebrink nicht an. Das Haus war verlassen, die Läden zugezogen, der Garten vernachlässigt. Seit Monaten schien sich kein Mensch mehr um das Anwesen gekümmert zu haben. Es dauerte eine Weile, bis Eleonora auf einen Menschen traf. Schließlich war es eine alte Nachbarin, die ihr verriet, dass Hedebrink schon vor Monaten abgereist war.
»Er hat nun endlich seinen lebenslangen Traum wahr gemacht und ist nach Italien gefahren«, erzählte die Nachbarin. »Das war das Beste für ihn, um seinen Liebeskummer zu heilen.«
»Liebeskummer?«, wiederholte Eleonora verblüfft.
»Jaja, der arme Kerl, war doch so verliebt in seine schöne Gesellschafterin. Er hätte sie bestimmt geheiratet, wenn die ihm nicht einen jungen Grafen vorgezogen hätte. Na ja, was so ein richtiger Graf ist.« Die Nachbarin war sehr redselig. Aber nun fasste sie Eleonora ins Auge. »Sagen Sie mal, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sind Sie nicht am Ende gar diese Christine?« Neugierig ließ sie ihren Blick über die Gestalt der fremden Besucherin wandern.
»Nein, nein, da irren Sie sich, das bin ich nicht«, wehrte Eleonora hastig ab und trat den Rückzug an. Oskar hatte am Rande der Straße auf sie gewartet.
»Und nun?«, erkundigte er sich.
»Keine Ahnung!«, sagte Eleonora entmutigt und ließ den Kopf hängen. »Wieso stehst du eigentlich noch hier? Müsstest du nicht schon längst wieder nach Berlin zurückgefahren sein?«
»Das bringe ich nicht übers Herz.« Er seufzte. »Ich kann Sie doch hier nicht einfach so stehenlassen. Kann ich Sie woanders
Weitere Kostenlose Bücher