Flamme der Freiheit
ja, mit Mitte dreißig bin ich schon ein älterer Herr«, kokettierte er.
»Aber ich bitte Sie«, protestierte Eleonora wie erwünscht.
Schilling winkte ab und stand auf. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, wippte auf und ab, schlenkerte mit den Armen, reckte und streckte sich. Und dann gähnte er, laut und unverhohlen. Perplex starrte Eleonora ihn an.
»Oh, verzeihen Sie«, sagte der Maestro erschrocken und legte ertappt die Hand vor den Mund. »Aber der kleine Schilling pflegt leider seit Monaten die Nacht zum Tag zu machen. Ich bin chronisch unausgeschlafen«, erzählte er und schlüpfte in seinen Mantel. Er schien es plötzlich eilig zu haben. »Ich muss hinüber zur Liedertafel, Zelter hat mich gebeten, einige Proben für ihn zu übernehmen. Wir können also noch ein Stück gemeinsam gehen.«
So geschah es. Nebeneinander schlenderten sie durch die Straßen Berlins, bis er an der Ecke Jägerstraße stehen blieb.
»Hier trennen sich für heute unsere Wege«, sagte Schilling. »Meine Empfehlung an Ihre Erlaucht. Ach ja, da fällt mir ein, bitte richten Sie ihr doch aus, dass der von ihr eingeladene Überraschungsgast eine Zusage gegeben hat und mit hoher Wahrscheinlichkeit ihrer Einladung Folge leisten wird.«
Genau in dieser Formulierung richtete Eleonora diese Nachricht auch aus. Gräfin Dorothea vernahm sie aufmerksam, ja, mit einer gewissen Genugtuung und nickte zufrieden.
»Dürfte ich fragen, um wen es sich bei diesem Überraschungsgast handelt?«, konnte sich Eleonora nicht verkneifen zu fragen. Wider eigenes und besseres Wissen keimte eine winzige Hoffnung in ihr auf. Umso unbeteiligter bemühte sie sich nach außen zu wirken, obwohl es in ihrem Inneren erheblich zu rumoren begann.
»Nein, nein, es ist nicht Alexander«, erstickte Gräfin Dorothea ihre abwegigen Erwartungen. Konnte sie Gedanken lesen? Sie fixierte ihren Schützling mit scharfem Blick.
»Du hast ihn immer noch nicht vergessen«, stellte sie fest.
Eleonora blieb stumm.
Gräfin Dorothea seufzte. »Seit Monaten habe ich nichts mehr von ihm gehört. Was mag aus ihm geworden sein? Ich befürchte das Schlimmste. Das Letzte, was wir von ihm erfuhren, ist, dass er sich der Armee von General Kutusow angeschlossen hat. Ob er tatsächlich in der Schlacht von Austerlitz zu Tode kam? Diese Ungewissheit macht mich krank.« Bekümmert starrte sie vor sich hin. Genauso bekümmert schaute Eleonora auf ihren gesenkten Kopf. Das einstmals silbrig schimmernde Haar der Gräfin war mittlerweile schlohweiß geworden. »Dass ich mir als Großmutter Sorgen um das ungewisse Schicksal meines verschollenen Enkels mache, ist überaus natürlich«, sagte sie. »Aber dass du ihn nach fast fünf Jahren einfach nicht vergessen kannst, bereitet mir zusätzlich Kummer.«
Eleonora schwieg. Was hätte sie auch entgegnen können?
Die Gräfin wusste nicht, dass sie nach fast fünf Jahren immer noch alle paar Wochen die Schublade ihrer Kommode aufzog und die darin liegende Stola herausnahm. Minutenlang drückte sie jedes Mal ihr Gesicht in das weiche Gewebe und sog tief den schwach verbliebenen Geruch nach Juchten und Sandelholz in sich hinein. In Sekundenschnelle wurden ihr damit alle Bilder, Gerüche und Gefühle jenes unvergessenen Sommerabends wieder gegenwärtig.
Das absolute Gebot des Schweigens ob des Verbleibs ihres Enkels gegenüber der Gräfin galt verschärft nach Ankunft der Verwandtschaft. Es war erstaunlich, wie konsequent sich sogar die sonst so redseligen Enkelinnen daran hielten. Einige Tage nach ihrem Eintreffen hatte Eleonora auf diskreten Anstoß von Jean es für richtig gehalten, den Komtessen den wahren Grund für die Abwesenheit ihrer Eltern zu verraten. Deren Ehemänner wurden gleichfalls eingeweiht und hatten Schweigen gelobt. Die Phalanx der Geheimnisträger, die Gräfin Dorothea mittlerweile umgab, war kaum mehr überschaubar. Aber es geschah doch alles zu ihrem eigenen Schutz. Allein, wie lange war dergleichen noch durchzuhalten? Die größte Gefahrenquelle stellte die bevorstehende Abendgesellschaft dar.
»Nur in einem kleinen Kreis wollen wir wieder einmal zusammenkommen«, hatte Gräfin Dorothea angeordnet. Was in diesem Falle bedeutete, dass es sich um eine Gesellschaft von »nur« achtzig geladenen Gästen handelte. Zählte man die Angehörigen der Familie Prewitz hinzu, kam man gut und gerne auf hundert Personen, die beköstigt und unterhalten werden sollten.
Und von diesen vielen Menschen durfte sich nicht ein Einziger
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