Flamme von Jamaika
Stück Stoff, das er vom Hemd eines Toten abgerissen hatte, daran, Jess’ stark blutenden Unterarm zu verbinden.
«Kannst du mir sagen, was da plötzlich in dich gefahren ist?», fragte er, während er den Stoffstreifen so fest um die Wunde wickelte, dass die Blutung zum Stillstand kam.
«Sei doch froh», murmelte Jess, «dass ich meine Dämonen von der Kette gelassen habe. Ansonsten wäre die Angelegenheit vielleicht anders ausgegangen.»
«Du hast es nicht wegen uns getan, du hast es wegen ihr getan. Stimmt’s?»
«Halt die Klappe, Nathan», knurrte er dumpf. «Oder es gibt noch einen Toten. Doch diesmal wird es kein Weißer sein.»
Lena schreckte aus einem traumlosen Schlaf hoch. Die Gefängnistüren quietschten. Doch es war nicht Jess, wie sie heimlich gehofft hatte, der ihr das Frühstück brachte, sondern seine Mutter. Lena hatte sie schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen, und wenn sie an ihre ersten Begegnungen dachte, hatte sie stets das Bild eines keifenden, hässlichen Weibs in Erinnerung. Bei näherer Betrachtung sah sie gar nicht so hässlich aus.
Nachdem Lena nun ihre vollständige Geschichte kannte, suchte sie nach Spuren, die Lord William dazu veranlasst hatten, sie aus einem Heer von willigen oder eher unwilligen Sklavinnen auszusuchen und über Jahre zu seiner Mätresse zu machen. Sie hatte wunderschöne Augen, groß und mit langen, dunklen Wimpern, die – obwohl viel dunkler – denen von Jess ziemlich ähnlich waren. Heute war sie dürr, aber Lena sah die grazile junge Frau von damals mit den sanft gerundeten Hüften und den prallen Brüsten geradezu vor sich, die sich nun tief hängend wie reife Brotfrüchte unter ihrem armseligen Kittel abzeichneten. Und auch ihr schöner Mund war in früheren Zeiten gewiss üppiger und damit verführerischer gewesen. Ihre Zähne waren immer noch hell und vollständig, selbst wenn sich das Zahnfleisch bläulich verfärbt und schon merklich zurückgezogen hatte. Ihr Haar, das nun mit Silberfäden durchzogen war, flutete ihr immer noch lang und lockig über die Schultern. Es war nicht so kraus wie das vieler anderer Negerinnen. Zusammen mit ihrer kaffeebraunen Haut hatte ihr anziehendes Äußeres sie unter ihren übrigen Leidensgenossinnen sicher zu etwas Besonderem gemacht. Staunend hatte Lena in ihren nächtlichen Gesprächen mit Jess vernommen, dass die Neger zum großen Teil ihre eigene Herkunft verschmähten und alles darum gaben, selbst hellhäutiger zu sein. Viele wünschten sich, hellhäutige Kinder zu gebären. Babas hübsches Aussehen war also zum einen ein großes Glück, zum anderen ein verheerender Fluch gewesen, der in der Person William Blakes über sie hereingebrochen war wie ein alles vernichtender Wirbelsturm.
«Es tut mir leid, was Ihnen alles widerfahren ist», entfuhr es Lena in einem Anflug ehrlichen Mitgefühls dafür, dass Lord William sich ihr gegenüber so abscheulich benommen hatte.
Baba schaute erstaunt auf, nachdem sie die offene Gittertür zur Seite geschoben hatte. Ihr zuvor aufgesetztes Lächeln erstarb.
«Was weißt du schon», erwiderte sie barsch. «Aus der Welt, der du entstammst, sendet Gott unsere Dämonen. Das Tückische dabei ist, dass sie wie Engel aussehen, es aber nicht sind.»
Sie musterte Lena auffällig und stellte ihr schließlich den dampfenden Napf vor die Füße. Gemüseeintopf mit frisch gebackenem Fladenbrot. Hatte Lena kurz zuvor noch geglaubt, sie hätte keinen Hunger, so belehrte ihr knurrender Magen sie nun eines Besseren. Während sie noch zögernd nach der erstaunlich sauberen Blechschüssel griff – schließlich war sie von ihrer Peinigerin anderes gewohnt –, grübelte sie immer noch darüber, ob die alte Frau sie je in ihr Herz schließen könnte.
«Guten Appetit.»
Auch das war neu, dachte Lena und honorierte Babas zuckersüßes Lächeln, indem sie ebenso zuckersüß zurücklächelte. Auch wenn Baba zugegebenermaßen seltsam war, sie wollte sich gerne mit ihr vertragen. Immerhin war sie Jess’ Mutter und hatte in ihrer Vergangenheit Schreckliches durchmachen müssen. Er liebte sie. Also würde sie versuchen, diese Frau auch zu lieben.
Lena löffelte erst vorsichtig, dann immer hastiger die Suppe, die ihr warm und köstlich den Magen füllte. Ein wenig störte es sie, dass Baba die ganze Zeit über am Gitter stehen blieb und sie beobachtete. Vielleicht wollte sie mit ihr reden und wusste nicht, wie sie es beginnen sollte.
«Hat man schon etwas von Jess gehört?», fragte Lena
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