Flamme von Jamaika
«Glaubst du ernsthaft, Nat, deine Bemerkungen seien hilfreich?»
«Lass gut sein», erwiderte Jess. «Nathan sorgt sich völlig umsonst. Er ist wie ein düster orakelndes Weib, schlimmer noch als meine Mutter», frotzelte er.
Nathan stieß einen schnaubenden Laut aus, der sein Missfallen bekundete. Dabei hatte Joel es nur gut gemeint. Jetzt war wirklich nicht die Zeit, um zu streiten. Sie mussten sich mit Haut und Haaren ihrer Mission widmen, und dabei durfte ihnen nicht der geringste Fehler unterlaufen. Wobei die Bedingungen alles andere als ideal waren. Der Regen hatte aufgehört, und dampfende Nebelschwaden stiegen vom Boden auf. Sie verwandelten die Umgebung zumindest in der Nähe des Waldes in eine regelrechte Suppenküche.
Auf leisen Zuruf verteilte Jess seine Krieger, die er für dieses Unterfangen eigenhändig ausgesucht hatte. Die Mulis hatten sie oberhalb eines zurückliegenden Hügels angebunden, und nun waren sie zu Fuß unterwegs. Bis an die Zähne bewaffnet, mit Pistolen, Macheten und Blasrohren, schlichen sie lautlos durch das Unterholz. An einem Felsvorsprung zückte Jess sein Fernrohr und überschaute die darunterliegende Ebene, die durch den aufkommenden Wind frei von Nebel war.
Mehrere Schatten bewegten sich dort unten im hohen Gras, und bei näherem Hinsehen bemerkte er die bewaffneten Scouts, die hinter ein paar Büschen lauerten. Ihr Auftrag war nicht, sie anzugreifen, denn das wäre zu offensichtlich gewesen. Aber allem Anschein nach sollten sie den entlassenen Gefangenen möglichst unauffällig folgen.
«Unsere freigelassenen Vögelchen sind nicht allein», knurrte Jess grimmig. «Sie werden von neunmalklugen Hühnerhabichten verfolgt.»
«Aber die Ahnen sind mit uns», gab Joel leise zurück. «Desdemona hat sie im Auftrag von Cato beschworen. Und wie du siehst, wird uns der Nebel eine natürliche Deckung geben.»
«Trotzdem müssen wir vorsichtig sein», erklärte Jess, während er weiter durch das Fernrohr schaute. «Die britische Armee hat hervorragende Fährtenleser, die auch Nebel nicht zurückhalten kann.»
Flüsternd wurde die Nachricht weitergegeben. Im Nu hatten sich seine Männer in der Umgebung verteilt. Jess gab Nathan und Joel einen Wink, der ihnen sagte, dass sie sich bereitzuhalten hatten, damit sie gemeinsam in gebückter Haltung einen Hügel hinablaufen konnten, an dessen Ende sie die drei ehemaligen Häftlinge in Empfang nehmen wollten. Bei näherem Hinsehen erkannte Jess, dass die drei jungen Kerle vollkommen abgemagert, schwer verletzt und nicht sonderlich gut zu Fuß waren. Ihre Peiniger hatten sie einige Zeit zuvor, wie abgemacht, in die Freiheit entlassen, aber Jess ahnte, dass sie beobachtet wurden. Sie würden jeden Einzelnen von ihnen den Berg hinauftragen müssen, damit sie sich in Anbetracht ihrer Verfolger schneller davonmachen konnten.
Jess ahmte das keckernde Geräusch eines Truthahngeiers nach, um die Sklaven mit den kurz geschorenen, schwarzen Köpfen, die plötzlich hinter hohen Grashalmen auftauchten, vorzuwarnen. Angstvoll schrak der Erste dennoch zurück, als Jess wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte und ihn ohne Vorwarnung auf die Schultern nahm. Er wollte etwas sagen, doch Jess gab ihm mit einem stummen Zeichen zu verstehen, dass er schweigen musste.
In der Hoffnung, dass seine Kameraden ihren Auftrag ebenso zuverlässig erledigten, trug Jess den Mann die Anhöhe hinauf. Dabei konnte er spüren, wie die Verfolger aufholten. Die Scouts hatten den lautlosen Befehl zum Vorrücken bekommen. Jess glaubte die Schritte seiner Verfolger regelrecht spüren zu können, doch als er das schützende Dickicht eines wilden Feigenbaums erreichte, sah er, dass es Nathan war, der ihm dicht auf den Fersen folgte.
«Wo ist Joel?», fragte Jess ein wenig besorgt, weil er ihn beim Anstieg aus den Augen verloren hatte.
«Weiß nicht», keuchte Nathan und schickte sich an, seinen wimmernden Häftling weiter zu den Mulis zu schleppen.
Jess blieb stehen und sah sich um. Als er Rahim, einen hochgewachsenen muslimischen Bruder, in seiner Nähe entdeckte, rief er ihn zu sich heran, damit dieser den geschwächten Gefangenen übernehmen konnte. «Bring ihn zu den Mulis, ich muss nachsehen, wo Joel mit dem dritten Kerl bleibt.»
Jess machte sich erneut auf den Weg bergab, obwohl er dabei Gefahr lief, auf die sie verfolgenden, britischen Soldaten zu treffen. Als er plötzlich ein Stöhnen vernahm, wusste er, dass er richtig gehandelt hatte. Ganz in der Nähe, unterhalb
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