Flammen im Sand
wenn es mit einem Sturm zu kämpfen hatte. Dass es ein Kampf sein
würde, glaubte sie ganz sicher. An die Gefahr, dass sich das Meer mit dem Sturm
verbünden könnte, dachte sie zum Glück nicht.
In was für einen Schlamassel war sie da nur hineingeraten! Die
Werkzeuge, von denen Sören gesprochen hatte, konnten ja nur die Uhren sein, die
Jannes Tove geliefert hatte. Wäre sie nur nicht auf die Idee gekommen, eine
dieser Uhren mitzunehmen! Dass Tove auf Jannes Pedersen losgegangen war, konnte
nur bedeuten, dass diese Uhr wirklich so viel wert war wie die, die Stefan
Lürsen am Arm trug. Wie wurde sie diese Rolex nur wieder los? Am besten, sie
schmuggelte sie in Toves Vorratsraum zurück. Dann konnte er sich bei Jannes
entschuldigen, und die Sache war aus der Welt. Doch wie war das zu bewerkstelligen?
Sie musste das irgendwie schaffen, bevor jemand die Uhr in Lucias Nähkästchen
entdeckte und sie in Erklärungsnöte geriet!
Vielleicht aber war es mit der gemeinsamen Sache von Tove und
Pedersen sowieso bald vorbei? Dass Jannes etwas mit Yvonne Perrettes Tod zu tun
hatte, erschien Mamma Carlotta nun so gut wie sicher. Hätte er sonst ein
falsches Alibi angegeben? Mamma Carlotta wusste genau, dass er sich nicht bis
nachts um drei in Käptens Kajüte aufgehalten hatte, sondern nur bis kurz vor
Mitternacht. Zu dumm, dass sie es Erik nicht verraten konnte! Andererseits â¦
nicht nur Jannes Pedersen, auch Geraldine Bertrand hatte gelogen. Mehrfach
sogar! War das nicht ebenfalls der Beweis, dass sie Elske Pedersen und auch
ihre Schwester auf dem Gewissen hatte?
»Madonna!«, flüsterte Mamma Carlotta und stieg vom Rad, als der
Sturm über die groÃe Heidefläche am Rande der NorderstraÃe fuhr und die eisige
Kälte vom Meer herübertrug.
Einer der beiden hatte Elske und Yvonne umgebracht. Aber wer? Konnte
sie sich überhaupt ins Modeatelier trauen? Sie würde allein sein mit Geraldine
Bertrand. Und wenn nicht sie, sondern Jannes Pedersen zwei Frauen auf dem
Gewissen hatte, dann hieà das, dass sie den ganzen Tag Wand an Wand mit einem
brutalen Mörder zubringen musste! Konnte sie das riskieren?
Als die Bebauung wieder begann, setzte sie sich erneut aufs Fahrrad.
Am Kreisverkehr hätte sie am liebsten den Schal abgebunden, so sehr hatte die
körperliche Bewegung sie erwärmt. Sie lieà das Rad ausrollen, in die
SteinmannstraÃe hinein, direkt in eine tief hängende Wolke, die mit feuchten
Fingern nach ihr zu greifen schien. Nach Lucias Tod hatten die Kinder sich
damit getröstet, dass ihre Mutter in den Wolken bei ihnen war, wenn sie sich
besonders tief über die Insel senkten. Auch Mamma Carlotta dachte immer
intensiv an ihre Tochter, wenn sie sich dem Himmel näher fühlte.
Ein, zwei heftige Böen sorgten dafür, dass sie sich noch immer
treiben lassen konnte. Diesmal kam es ihr so vor, als könnte sie in den tief
hängenden Wolken auch Yvonne Perrette erkennen. Warum hatte sie sterben müssen?
Weil sie sich für den falschen Mann entschieden hatte, der sie misshandelte,
aber nicht gehen lassen wollte? Oder war sie gestorben, weil ihre Schwester sie
loswerden wollte? Doch warum? Weil Yvonne verlangt hatte, dass Geraldine die
Affäre mit Wilko Tadsen beendete? Weil sie genau wie Mamma Carlotta empört
darüber gewesen war, dass Geraldine ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann
hatte?
Mamma Carlotta dachte intensiv nach, kam dann aber zu der Ansicht,
dass ein solcher Streit zwischen Schwestern kein ausreichendes Mordmotiv
darstellte. Aber war das ein Beweis für Geraldines Unschuld? Oh nein! Einer
Frau, die nach dem Tod ihrer Schwester ihren Laden öffnete und so tat, als wäre
nichts geschehen, war alles zuzutrauen. Wer so pietätlos war, würde auch vor
einem Mord nicht zurückschrecken. Die Frage war nur: Warum hatte sie gemordet?
Vor dem Eingang des Altenheims rollte ihr Fahrrad aus. Und noch ehe
sie in die Pedale treten konnte, fiel ihr ein, was sie Stefan Lürsen
versprochen hatte. Zwar fragte sie sich, ob sie sich überhaupt an ein
Versprechen halten musste, das sie einem Mann gegeben hatte, der nicht ehrlich
zu ihr gewesen war. Aber dann fiel ihr ein, dass sie selbst über ihre Besuche
in Käptens Kajüte ebenfalls strengstes Stillschweigen bewahrte. Sollte Erik sie
jemals fragen, ob sie Toves Rotwein aus Montepulciano probiert habe, würde sie
genauso strikt die Unwahrheit sagen
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