Flammen über Arcadion
bewahrt.«
Carya blinzelte überrascht. Solche Worte hätte sie von ihrer Mutter nicht erwartet. »Eines seiner Kinder?«, wiederholte sie. »Aber Tobyn war ein Invitro.«
»Das Licht Gottes scheint auf alle empfindungsfähigen Wesen herab«, erwiderte ihre Mutter. »Verrate es deinem Vater nicht, dass ich das gesagt habe, denn dann würden ihm nur noch mehr graue Haare wachsen. Aber das ist es, was ich glaube. Und weil ich es glaube, bin ich trotz allem, was uns noch an Ungemach bevorstehen mag, stolz auf dich. Ich bin stolz auf dich, weil du in der Richtkammer auf dein Herz gehört hast.« Ihre Mutter beugte sich vor und küsste Carya zärtlich auf die Stirn. »Bleib so, meine liebe Carya. Hör auf dein Herz und nicht auf das, was dein Vater oder deine Lehrer oder die Inquisitoren sagen.«
Mit diesen Worten erhob sie sich, verließ leise den Raum und schloss die Tür.
Carya aber saß in ihrem Bett, eingewickelt in ihre Decke, starrte in die Dunkelheit und dachte nach. Sie solle auf ihr Herz hören, hatte ihre Mutter gesagt, nicht auf die Inquisitoren, nicht auf die Lehrer. Nicht auf meinen Vater …
Mit einem Ruck schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. Sie hatte noch etwas zu erledigen!
Kapitel 14
S o leise, wie es ihr möglich war, kleidete Carya sich an. Sie schlich zur Tür ihrer Kammer und öffnete diese vorsichtig einen Spaltbreit. Im Korridor war das Licht gedämpft. Kein Laut war zu hören. Ihre Mutter hatte sich offenbar ebenfalls zur Ruhe begeben. Hätte sie noch in der Wohnstube gesessen, wäre mit Sicherheit das Klicken ihrer Stricknadeln zu hören gewesen, die sie nicht nur zum Vergnügen hervorholte, sondern auch immer dann, wenn sie eine unangenehme Wartezeit überbrücken wollte – in diesem Fall die Zeit bis zur Rückkehr von Caryas Vater.
Auf Zehenspitzen schlich Carya den Flur entlang bis zur Wohnungstür, neben der ihre Schuhe standen. Als sie hineinschlüpfen wollte, bemerkte sie, dass jemand – vermutlich ihre Mutter – etwas in ihren linken Schuh gelegt hatte. Verwundert zog sie es hervor.
Es handelte sich um ein zusammengefaltetes Blatt Papier.Als sie es öffnete, fand sie darin eine silberne Kette mit auffällig grob ineinandergreifenden Kettengliedern vor.Am Ende der Kette hing ein ovales Metallplättchen, auf das ein seltsames Muster graviert war, das Carya nicht kannte. Am unteren Ende des Plättchens, das ein wenig an die Dienstmarke erinnerte, die Ramin als Jungtempler um den Hals zu tragen verpflichtet war, befanden sich eine Reihe goldener Einkerbungen. Wenn das ein Schmuckstück war, dann eines, wie Carya es zuvor noch nie gesehen hatte.
Nimm es, stand auf dem beiliegenden Zettel in den geschwungenen Lettern ihrer Mutter geschrieben. Es gehört dir. Wir sprechen später darüber. Aber verrate deinem Vater nichts.
Carya drehte den Zettel in den Händen und blickte zum Schlafzimmer ihrer Eltern hinüber. Die Tür war angelehnt. Dahinter herrschte tiefe Finsternis. Aber schlief ihre Mutter wirklich schon? Und warum hatte sie Carya diese Nachricht und das seltsame Kleinod hingelegt? Beinahe hatte es den Anschein, als habe sie erwartet, dass ihre Tochter in dieser Nacht noch einmal die Wohnung verlassen würde. Auch wenn sie vorgab, nichts davon mitzubekommen. Solch ein geheimnisvolles Verhalten passte gar nicht zu ihr.
Verwirrt steckte Carya Kette und Zettel in ihre Rocktasche. Sie würde sich später darüber Gedanken machen. Jetzt hatte sie Wichtigeres zu erledigen. Leise zog sie ihre Schuhe an, öffnete die Haustür und huschte verstohlen nach draußen.
Durch das hohe Treppenhaus eilte sie hinunter ins Erdgeschoss. Statt jedoch zur Vordertür hinauszutreten, wo sie Gefahr lief, ihrem heimkehrenden Vater zu begegnen, begab sie sich zur Waschküche, um von dort in den kleinen Garten hinter dem Haus zu gelangen, in dem die Bewohner ihre Wäsche trockneten. Einige vergessene Handtücher hingen über den Leinen und bewegten sich träge in der noch immer angenehm warmen Abendluft. Irgendwo in der Stadt schlug eine Kirchturmuhr. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht.
Carya lief zu der rückwärtigen Bruchsteinmauer hinüber, die den Garten einfasste, und öffnete die mannshohe Gittertür, die zu einer engen, zwischen den Häuserreihen verlaufenden Gasse führte. Rasch eilte sie in der Dunkelheit zwischen den mehrstöckigen Häusern dahin, bis sie eine quer verlaufende Treppe erreichte, die sie zurück zur Straße ihres Wohnblocks brachte.
Bevor sie aus dem
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