Flammen über Arcadion
Verbrecher bei ihm unterschlüpfen?« Carya konnte sich nicht vorstellen, dass er davon begeistert war.
»Der merkt das gar nicht«, entgegnete Jonan. »Er ist zu sehr damit beschäftigt, ein Handelsunternehmen zu führen. Kleinigkeiten wie die, wer in seinem Lagerhaus ein und aus geht, interessieren ihn nicht, solange nichts den gewohnten Gang unterbricht. Und den Nachtwächter, der für das Lager zuständig ist, kenne ich von früher. Er mag mich und wird uns nicht verraten, wenn ich ihn darum bitte, ein paar ungestörte Stunden mit dir dort verbringen zu dürfen. Ich sage ihm einfach … « Er stockte und schaute Carya plötzlich verlegen an.
»Dass wir ineinander verliebt sind, aber dein Vater nichts davon erfahren darf«, vollendete Carya den Satz für ihn. Sie sagte es leichthin, als sei es nur ein Spaß zwischen ihnen beiden, um Jonans Bekannten zu täuschen. Trotzdem beschleunigte sich ihr Herzschlag bei den Worten.
Jonan räusperte sich. »Etwas in der Art, ja«, gestand er. »Das wird uns ein paar Stunden Zeit geben, in denen wir unbehelligt sind und unser weiteres Vorgehen planen können.« Er nickte wie zur Bekräftigung und wandte dann den Blick ab, um aus dem Fenster der Kutschkabine zu schauen. Die Finger seiner behandschuhten Hände trommelten auf die Oberschenkelschienen seiner Panzerung. Er schien nicht weniger nervös zu sein als Carya.
Verstohlen musterte sie ihn aus den Augenwinkeln. Ich sage ihm einfach, dass wir ineinander verliebt sind, hallte es durch ihren Geist. War das der Grund? Hatte er sie deshalb gerettet und damit wahrscheinlich sein ganzes bisheriges Leben von einem Moment auf den anderen fortgeworfen, weil er sich bei ihrer ersten Begegnung im Dom des Lichts Hals über Kopf in sie verliebt hatte?
Das ist Unsinn, sagte sie sich. Vollkommener Unsinn.
Sie fühlte sich noch immer wie in einem Fiebertraum gefangen. Leider gab es keine Möglichkeit, daraus zu erwachen. Was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war, diese wahnwitzige Verkettung von Umständen, die ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hatten, ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Ihr blieb nur eins: Nach vorne schauen und sich dem stellen, was kommen würde. Und obgleich sie Jonan eigentlich überhaupt nicht kannte, ertappte sich Carya bei der inständigen Hoffnung, dass er an ihrer Seite bleiben würde.
Kapitel 16
S ie ließen sich von dem Kutscher ins Industriegebiet Arcadions bringen. Zwei Blocks von ihrem Ziel entfernt befahl Jonan ihm anzuhalten, und sie stiegen aus. Sie sahen ihm nach, während er sich mit seinem Fuhrwerk eilig aus dem Staub machte. Den Rest der Strecke legten Carya und Jonan zu Fuß zurück.
Das Lagerhaus erwies sich als großer, langgezogener Bau aus braungelben Ziegelsteinen. In etwa vier Metern Höhe gab es eine Reihe halbrunder Fenster, die durch rostige Gitter gesichert waren. Regenflecken unterhalb der Dachrinne und Schmierereien am unteren Drittel der Mauer zeugten davon, dass der Besitzer – über eine Nutzung als Lager hinaus – wenig Interesse an dem Gebäude hatte.
»Da wären wir«, sagte Jonan. »Das perfekte Versteck.«
»Es ist schäbig«, merkte Carya an.
»Da hast du recht, aber wir wollen hier ja auch nicht einziehen.«
Sie umrundeten das Gebäude und marschierten auf den Eingang zu, der von einer kleinen Laterne erhellt wurde. Jonan schlug mit seiner gepanzerten Rechten krachend gegen das breite Metalltor, von dem die gelbe Farbe abblätterte. Einen kurzen Moment später war dahinter eine heisere Stimme zu vernehmen. »Wer da?«
»Ich bin’s, Capolitto. Jonan.«
Das Tor wurde von innen entriegelt, öffnete sich einen Spaltbreit, und ein grauhaariger Mann mit sonnengebräuntem, zerknittert wirkendem Gesicht streckte neugierig den Kopf heraus. In der Rechten hielt er eine dampfende Tasse Malzkaffee, die ihm vor Schreck beinahe aus der Hand gefallen wäre, als er Jonans in dem schweren Panzeranzug steckende Gestalt erblickte. Im nächsten Moment hatte er sich jedoch wieder gefangen, und ein Lächeln, das einige Zahnlücken offenbarte, erschien auf seinen Zügen. »Beim Licht Gottes, du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, Junge.«
Jonan zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Tut mir leid, ich komme direkt von einer Nachtwache.« Er deutete auf den Spalt. »Dürfen wir reinkommen?«
»Natürlich.« Der Alte namens Capolitto schob das Tor weiter auf, sodass Carya und Jonan es passieren konnten. »Das ist aber schön, dass du mich mal
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