Flammen über Arcadion
und nahm die schwere Brustplatte ab.
»He, da steckt ja ein Mensch drin«, rief Carya mit gespielter Überraschung, als sie Jonan im Inneren des Anzugs stehen sah. Er trug einen braunen, eng anliegenden Overall, in den irgendwelche Schläuche eingenäht waren, und erinnerte damit auffallend an eine Sardine in einer schwarzen Konservenbüchse.
»Man mag es kaum glauben, nicht wahr?«, erwiderte er grinsend, während er die Panzerarme spreizte und mit zwei eleganten Drehungen des Oberkörpers seine eigenen daraus hervor und an die Brust zog. Er löste einige Kabel, die ihn mit dem Anzug verbanden. Schließlich klappte er drei weitere Rüstungsteile am Unterleib und den Oberschenkeln zur Seite und stieg storchbeinig aus dem Anzug heraus.
Erleichtert schüttelte er die Glieder aus. »Beim Licht Gottes, wenn man einen ganzen Tag in dieser Rüstung gesteckt hat, fühlt man sich nach dem Ausziehen so leicht, als könnte man fliegen.« Er roch an seinem Overall und rümpfte die Nase. »Sei mir nicht böse, aber ich gehe rasch zu Capolitto hinunter, um mich zu waschen. Vielleicht hat er auch andere Kleidung für mich. Die Panzerungen sind zwar gekühlt, aber die Technik ist heute einfach nicht mehr das, was sie vor dem Sternenfall war.«
Carya nickte. »Geh nur. Ich bleibe hier.«
Während Jonan unten in der Halle verschwand, ließ Carya sich auf dem Sofa nieder. Es erwies sich als erstaunlich bequem, auch wenn es ein wenig nach kalter Asche roch. Sie drückte sich gegen das Rückenpolster, schlüpfte aus ihren Schuhen und zog die Beine an den Körper. Da wäre ich also, dachte sie. In einer heruntergekommenen Lagerhalle und in Begleitung eines flüchtigen Templersoldaten. Meine Eltern befinden sich in Haft, und ich habe keine Ahnung, was die Inquisitoren ihnen antun werden. Offenbar waren sie ja nicht in der Stimmung, um Gnade walten zu lassen. Habe ich Loraldi und Aidalon womöglich getötet?
So sehr ein Teil von ihr sich das Ableben der beiden grausamen Männer wünschte, so sehr fürchtete sie den Zorn des Lux Dei, den sie mit solch einer Tat heraufbeschworen hätte. Was mache ich jetzt bloß? Wie befreie ich meine Eltern? Und wohin wende ich mich danach? In Arcadion kann ich nicht bleiben – nicht, solange der Lux Dei diese Stadt beherrscht. Aber was gibt es denn dort draußen sonst?
Sie musste an Rajael denken. Tobyn hatte ihr gesagt, sie solle die Stadt verlassen. Wahrscheinlich hatte er ihr auch ein Ziel genannt. Da Rajael allerdings sicher nicht gewollt hatte, dass diese Information in die Hände der Inquisition geriet, hatte sie sie vermutlich vernichtet, bevor sie sich umgebracht hatte. Oder hatte sie sie vielleicht in den Beutel gesteckt, den sie Carya hinterlassen hatte? In dem Fall war es wichtiger denn je, dass Carya ihn wieder in ihre Hände bekam. Ich muss morgen nochmal in meine Straße zurück , entschied sie. Sie hoffte nur, dass bis dahin niemand das versteckte Gepäckstück fand.
Und dann war da noch etwas, worum sie sich kümmern musste, ein Geheimnis, das es zu lüften galt. Sie fuhr mit der Hand in ihre Rocktasche und zog die silberne Kette mit dem seltsamen Metallanhänger hervor, den ihre Mutter ihr in der Nacht in den Schuh gesteckt hatte – beinahe als hätte sie gewusst, dass sie bald keine Gelegenheit mehr dazu haben würde.
Carya fragte sich, was das bloß für ein seltsamer Gegenstand sein mochte und was ihre Mutter wohl damit gemeint hatte, als sie schrieb, er gehöre ihr. Sie hatte das Amulett noch nie gesehen. Ihre Eltern hatten auch nie irgendetwas erwähnt. Ob es ein Geschenk sein sollte? , fragte sie sich. Etwas, das sie mir erst geben wollten, wenn ich volljährig werde? Das war denkbar. Umso mehr stellte sich die Frage, warum ihre Mutter es ihr jetzt auf einmal vermacht hatte und was sie nun damit anfangen sollte.
Probeweise streifte sie die Kette über und ließ die Metallscheibe vor ihrer Brust baumeln. Sie wirkte nicht sonderlich dekorativ, ungefähr so, als hätte man sich eine Rasierklinge oder einen Hausschlüssel umgehängt. Das konnte kein Schmuck sein. Es sah auch gar nicht wie gewöhnlicher Schmuck aus, und wenn das Amulett moderne Kunst gewesen wäre, hätte ihre Mutter, die damit gar nichts anfangen konnte, es nie gekauft.
Aber wenn es kein Schmuck ist, was ist es dann?
Carya wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Jonan zurückkehrte. Er war nun in einen dunkelblauen Overall gekleidet, wie ihn die Packer der Firma seines Onkels tragen mochten, und sein dunkles
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