Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
sich damit zu begnügen. Für heute Nachmittag ist im Unterhaus die zweite Lesung des Entwurfs vorgesehen. Die Anarchisten laufen nach wie vor frei herum und werden von Tag zu Tag dreister. Die Polizei kann nichts gegen sie unternehmen, weil ihr die nötigen Vollmachten fehlen. Womöglich kommt es zu einer neuen Gewalttat, bevor Lord Albemerle seinen Einfluss geltend gemacht hat. Wie viele Menschen werden dabei umkommen, wie viele weitere Straßenzüge niedergebrannt? Und was ist, wenn die Feuerwehr beim nächsten Mal das Feuer nicht eindämmen kann und es sich unkontrolliert ausbreitet? Haben Sie das bedacht? Der Staatsschutz ist nutzlos. Was haben die Leute schon erreicht? Einige unbedeutende Mitläufer sitzen im Gefängnis, und ein junger Mann ist ermordet worden! Gott allein weiß, warum und von wem.«
Unwillkürlich warf Vespasia einen Blick auf Sheridan. Im selben Augenblick wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Was sie auf seinem Gesicht sah, war nicht etwa plötzliches Schuldbewusstsein, sondern der Ausdruck von Kummer und Elend. Das mochte darauf zurückzuführen sein, dass er nicht vermocht hatte, seinen Sohn vom Weg der Gewalttätigkeit abzubringen, auf dem er sich verrannt hatte.
Trotz ihres dringenden Wunsches, die Frage aus ihren Gedanken zu verscheuchen, kehrte sie wieder. War es möglich, dass er seinen Sohn lieber getötet hatte, als mit ansehen zu müssen, dass er diesen Weg immer weiter verfolgte? Oder hatte er gar dem Henker vorgreifen und ihm die unendlich viel größere Qual ersparen wollen, die mit einer Verhaftung und einem Gerichtsverfahren verbunden gewesen wäre, die Tage und Nächte des Entsetzens, in denen er auf das unvermeidliche Morgengrauen hätten warten müssen, da man ihn holen würde, die Schlinge,
den Sack über dem Kopf, das Knacken des Hebels und dann den tiefen Fall in die Vergessenheit?
Verglichen damit war ein Schuss in den Hinterkopf unendlich viel gnädiger. Hatte Sheridan das getan? Er hatte seinen Sohn geliebt, ganz gleich, was sich dieser möglicherweise hatte zuschulden kommen lassen. Der Schmerz darüber war auf alle Zeiten in sein Gesicht eingegraben.
»Wir wissen weder, wer diese Anarchisten sind und welche Verbindungen sie haben, noch, auf welche ausländischen Verbündeten sie unter Umständen zählen können«, sagte Denoon, der entweder den Kummer seines Schwagers nicht wahrnahm oder sich nichts daraus machte. »Die Gefahren sind gewaltig. Wir dürfen sie nicht unterschätzen. Unser Weg ist deutlich vorgezeichnet, ganz gleich, wie unangenehm er für uns selbst sein mag.«
»Du sprichst, als ob sich diese Leute einig wären«, unterbrach ihn Cordelia. »Ich glaube nicht, dass das der Fall ist.«
Denoon sah sie verärgert an. »Ich weiß nicht, was du damit meinst. Ich habe keine Ahnung, ob sie sich einig sind oder nicht, und es ist mir gleichgültig. Mir geht es ausschließlich darum, sie loszuwerden.«
»Mein Sohn gehörte zu ihnen. Mag sein, dass er falsche Ziele verfolgt hat.« Cordelias Stimme klang angespannt, war voller Gemütsbewegung. »Man hat ihn getötet. Ich möchte nicht nur wissen, wer das war, sondern auch, dass er dafür an den Galgen kommt.«
Erneut flammte die Angst in Vespasia auf, dass Sheridan selbst ihn getötet hatte. Es war nicht nur vorstellbar, es schien ihr auch ohne weiteres möglich. Wie konnte sie ihn nur schützen? Welche Möglichkeit hatte sie, zu verhindern, dass jemand davon erfuhr – sogar Pitt?
Sie merkte, wie ihn auch Enid ansah, als habe derselbe furchtbare Gedanke von ihr Besitz ergriffen. Was wusste sie? Und wie wäre das möglich, wenn er es ihr nicht selbst gesagt hatte? Würde er ihr eine solche Last aufbürden? Oder hatte sie es erraten?
Kannte sie ihn so gut, dass er unmöglich ein solches Geheimnis vor ihr bewahren konnte?
Er dürfte inzwischen ein gänzlich anderer Mann sein als der, den Vespasia einst gekannt, mit dem sie über unbedeutende Dinge geredet, gescherzt, dem sie lustige Geschichten erzählt oder sonderbare Einzelheiten berichtet hatte, der Mann, mit dem sie kleine Freuden des Alltags geteilt hatte, wie beispielsweise einen Regenspaziergang oder eine einfache Mahlzeit am Kaminfeuer. Nichts von alldem war jetzt von Bedeutung; es gab ihr lediglich eine Möglichkeit, die Anfälle von Einsamkeit von sich fern zu halten, oberflächliche Dinge mit ihm zu teilen, damit das Unausgesprochene erträglich wurde, das alles Überwältigende. Es ging um Freundschaft, die ohne Worte verstand.
Hatte
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