Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
sie mit belegter Stimme und zugleich leise, weil sie nicht wollte, dass Gracie sie hörte. Wenn sie davon wüsste, würde sie sich nur Sorgen machen. Charlotte kannte die Angst nur allzu gut, als dass sie sie einem anderen Menschen gewünscht hätte, und schon gar nicht einem, an dem ihr lag. »Um was für eine Art Beweis handelt es sich da?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Und wenn er lügt?«, gab sie zu bedenken. »Vielleicht gibt es
da gar nichts, und er möchte nur, dass Tellman in eine Falle läuft. Das wäre für ihn eine erstklassige Rache, und du könntest nicht einmal beweisen, dass er die Schuld daran trägt. Es gibt …« Sie fasste ihn am Ärmel, als er durch die Tür in den Flur hinaus wollte.
Er legte eine Hand auf die ihre. »Ich werde Voisey fragen, worum es geht, bevor ich mit Tellman spreche«, sagte er.
»Wenn er es dir aber nicht sagt?« Sie ließ nicht los.
»Dann kann ich Tellman nicht bitten, danach zu suchen.«
»Willst du ihn nicht wenigstens fragen …«
»Nein.« Er lächelte. »Will ich nicht.«
Wie sich zeigte, war Voisey gern bereit, Einzelheiten zu nennen. Er hatte sie nur nicht dem Papier anvertrauen wollen, obwohl er den Umschlag verschlossen und einem Boten übergeben hatte.
»Ich hätte das schon früher sehen müssen«, sagte er, über sich selbst verärgert. Er und Pitt saßen im kleinen Besuchszimmer seines Hauses in der Curzon Street. Es war ein wunderbar geschnittener Raum, dessen Wände in dunklen Rottönen gehalten waren und über dessen weiß gestrichene Fensterbänke hinweg der Blick auf eine Terrasse fiel. Kletterpflanzen hingen von oben über zwei der Fenster herab, dämpften das Licht und fügten den warmen Farben der Wände einen Hauch Grün bei. Das Holz der schlichten Möbel war so kräftig poliert, dass die Maserung aussah, als bestehe sie aus Seide. Überrascht sah Pitt, dass die Bilder an den Wänden lavierte Federzeichnungen von kahlen Winterbäumen waren.
»Was hätten Sie sehen müssen?«, erkundigte er sich, während er sich in den angebotenen Sessel mit rotgoldenem Samtbezug sinken ließ.
Voisey blieb stehen. »Die Polizei hat mit Verbrechen zu tun. Die Lösung liegt auf der Hand.«
»Welche Lösung?«, fragte Pitt, dem es schwer fiel, seine Ungeduld zu zügeln.
Voisey lächelte und genoss die Ironie. »Die Polizei deckt Verbrechen
aller Art auf, schwere und minder schwere. Wir nehmen an, dass die Täter dann vor Gericht kommen und verurteilt werden, sofern man sie für schuldig befindet.«
Pitt wartete.
Voisey beugte sich leicht vor. »Was aber ist, wenn die Polizei ein Verbrechen entdeckt, für das nur sie die Beweise kennt? Oder eines, dessen Opfer nicht aussagt? Hebt sie dann diesen Beweis auf, statt den Fall vor Gericht zu bringen, um den Täter zu erpressen? Ich bin überrascht, dass ich Ihnen das erklären muss.«
Die Erkenntnis durchfuhr Pitts Gehirn wie ein Messer.
»Sie haben das Beweismaterial gegen meine Schwester sorgfältig und an einem sicheren Ort aufbewahrt, damit ich tue, was Sie wollen«, fuhr Voisey fort. »Wieso ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass Wetron ebenso handeln würde? Ich an seiner Stelle hätte das getan. Was könnte nützlicher sein als ein Handlanger, der genau das tut, was man will? Er kauft das Dynamit, bringt es fachkundig an, zündet es im gegebenen Augenblick und tötet auch Magnus Landsborough, wenn sich das als unausweichlich herausstellt.«
Die Lösung war so unglaublich einfach, dass beide längst darauf hätten kommen müssen. Pitt selbst würde ein wirkliches Verbrechen nie ungeahndet lassen können. Er wusste ebenso gut wie Voisey, dass Mrs Cavendish dem Geistlichen Wray die vergifteten Himbeertörtchen arglos gegeben hatte und ohne zu wissen, was sie damit tat. Wäre Pitt eine Möglichkeit bekannt gewesen, Voisey für diese Tat zur Rechenschaft zu ziehen, er hätte es getan. Wie die Dinge lagen, hätte die Verwertung der Beweise aber dazu geführt, dass man ausschließlich seine Schwester verurteilt hätte, während sich Voisey darauf verlassen konnte, den Gerichtssaal als freier Mann zu verlassen – sicherlich betrübt, einsamer als vorher, möglicherweise sogar von Schuldbewusstsein niedergedrückt, aber dennoch frei.
Selbstverständlich befand sich Wetron in einer idealen Ausgangsposition, um Beweise für ein Verbrechen zu finden, das er sich auf diese Weise zunutze machen konnte. »Es könnte alles
Erdenkliche sein – Diebstahl, Brandstiftung, Mord, alles, was in den letzten …«
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