Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
nicht in die Augen gesehen, weil ihm klar war, was dieser fragen würde. Doch den Blick abzuwenden erschien ihm nicht nur feige, es erweckte seiner Ansicht nach auch den Eindruck, als halte er ihn nicht für bereit, in diesem Dilemma seinen Anteil auf sich zu nehmen oder die Situation zu verstehen. »Er sagt, dass Wetron Beweismaterial für frühere Verbrechen zurückgehalten hat. Zwar liegt auf der Hand, dass er sich in den Besitz solchen Materials bringt, denn das ist seine eigentliche Aufgabe. Aber das gibt ihm zugleich eine erstklassige Möglichkeit in die Hand, Leute mit zurückgehaltenem Material zu erpressen, damit sie beispielsweise Sprengsätze legen.«
Einen Augenblick lang lag auf Tellmans Gesicht Unverständnis. Genau wie Pitt ursprünglich war auch ihm nie der Gedanke gekommen, jemand könne Angaben, die der Polizei zur Verfügung standen, für solche Zwecke verwenden. Dann erfasste er die Bedeutung des Gesagten. Sein Gesichtsausdruck wurde kummervoll, und eine ganze Weile sagte er nichts.
Pitt brach das Schweigen. »Es könnte sich um jemanden handeln, der aus Verzweiflung oder im Affekt ein Verbrechen begangen hat«, sagte er in Erinnerung an das Gespräch mit Voisey. »Jemand, der viel zu verlieren hat. Erpressen kann man Menschen nur, wenn sie Angst haben.«
Tellman sah zu ihm auf. »Ich suche das Material«, sagte er entschlossen.
»Und ich werde nicht ruhen, bis ich es gefunden habe. So viele Stellen kommen als Versteck nicht infrage. Sicher bewahrt er es irgendwo auf, damit er es dem Betreffenden notfalls unter die Nase halten und ihm klar machen kann, welche Macht er über ihn hat. Die Frage ist nur, wo? Wie könnten wir daran kommen, wenn er es bei sich zu Hause aufbewahrt? Von einem Einbruch halte ich nichts. Sobald er merkt, dass wir dahinter her sind, wird er es vernichten. Wenn er einen armen Teufel dazu gebracht hat, Sprengsätze zu zünden, braucht er das alte Material in Zukunft gar nicht mehr, um ihn weiter zu erpressen, da genügt der Hinweis auf die Folgen des verübten Anschlags.«
Pitt spürte, wie sich eine schwere Last auf ihn senkte. Was, wenn Wetron alle Beweise bereits beseitigt hatte? Bestimmt war ihm ebenfalls schon der Gedanke gekommen, dass es gefährlich war, so etwas zu behalten, zumal ihm klar sein musste, dass Voisey von seinem Wunsch nach Rache geradezu durchglüht war.
Tellman sah ihn mit gesammelter Aufmerksamkeit an.
Es konnte aber auch noch schlimmer sein. Der Gedanke, dass Wetron das Beweismaterial noch besaß und bewusst eine Fährte gelegt hatte, damit Voisey oder Pitt jemanden damit beauftragte, es zu beschaffen, war alles andere als abwegig. Diesen Mann hätte er dann in der Falle. Sicher war ihm klar, dass zumindest Pitt alles daran setzen würde, den Betreffenden aus dieser misslichen Lage zu befreien, und beim Versuch, das zu tun, konnte man ihn selbst ergreifen. Rasch hob er den Blick zu Tellman. »Die Sache ist zu gefährlich. Sicher ist der Gedanke auch Wetron schon gekommen, und er wartet nur darauf, dass einer von uns versucht, an die Unterlagen heranzukommen. Er wird …«
»… uns besiegen, wenn wir ihn nicht besiegen«, fiel ihm Tellman ins Wort. »Lieber gehe ich bei dem Versuch unter, als mir den Vorwurf machen zu müssen, nichts unternommen zu haben.«
»Wenn wir uns aus der Sache heraushalten, bleiben wir auf jeden Fall am Leben und können weiterkämpfen«, bemerkte Pitt
erzürnt. Sein Groll galt nicht Tellman, sondern Wetron sowie den Umständen, die sie in diese Situation gebracht hatten; er galt der Korruption, der Dummheit und der Tatsache, dass er nicht wusste, wem er trauen konnte.
»Für jemanden, der schon verloren hat, ist Weiterkämpfen nicht besonders sinnvoll«, sagte Tellman mit einem schiefen Lächeln, in dem sich Spott und Betrübnis mischten. Seinen Augen war anzusehen, dass auch er das Gefühl hatte, hilflos in einer Falle zu sitzen. Auch er hatte viel zu verlieren, sah er doch ein gänzlich neues und schönes Leben vor sich. »Glauben Sie wirklich, er rechnet damit, dass wir danach suchen?«, fragte er.
»Wir können uns die Annahme nicht leisten, dass er es nicht tut«, sagte Pitt. »Andererseits bedeutet das, dass es eine Art Fährte geben muss, die zu dem Material führt.«
»Wie ist Voisey darauf gekommen?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich liegt der Gedanke auf der Hand, jedenfalls für einen Menschen ohne Bindungen, dem unsere Vorstellungen von menschlichem Anstand fremd sind – und das ist bei ihm ganz
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