Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Abgeordneten zollten ihm Beifall, andere riefen: »Hört! Hört!«
Wie erstarrt wartete Charlotte auf den noch weiter gehenden Vorschlag, man solle auch Dienstboten ohne Wissen und Willen
ihrer Herrschaft befragen können. Sie warf einen kurzen Blick auf Emily, die ihn mit einem trübseligen Lächeln erwiderte.
Vor ihnen ergriff eine füllige Frau in einem Kleid aus einem leichten Woll-Seide-Gemisch die Hand der jüngeren neben ihr. »Na bitte, meine Liebe«, flüsterte sie tief befriedigt. »Ich habe gleich gewusst, dass man uns beschützen wird.«
Tanqueray legte sein Vorhaben in Einzelheiten dar, wobei er es nicht versäumte, zahlreiche Geschichten von einfachen Leuten einzuflechten, die Opfer von Diebstahl, Brandstiftung und Gewaltandrohung geworden waren. Auf jede einzelne folgten Ausrufe des Mitgefühls oder der Empörung. »Wir müssen tun, was wir können«, schloss er, »es ist unsere Pflicht den Menschen im Lande gegenüber, alles zu unternehmen, wozu wir befugt sind. Lassen Sie mich Ihnen versichern – ich werde in meinen Bemühungen nicht nachlassen, bis unsere Polizei jede erdenkliche Unterstützung bekommen hat und ihr jeder Schutz zuteil wird, den sie bei der Erfüllung ihrer Aufgabe braucht, die darin besteht, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten.«
Als er sich unter brausendem Beifall setzte, bat Jack Radley, von seinem Fraktionsführer unterstützt, um das Wort.
Emily lächelte, doch an der Art, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, sodass der Stoff ihrer Handschuhe über den Knöcheln spannte, erkannte Charlotte den Grad ihrer Erregung.
»Der geschätzte Kollege spricht davon, wie sehr einfache Leute unter Straftaten leiden«, begann Jack. »Er hat völlig Recht, wenn er sagt, dass man sie schützen muss, sei es in ihrem Privatleben, sei es am Arbeitsplatz. Das zu tun ist die vorrangige Aufgabe der Polizei.«
Zustimmendes Murmeln erhob sich. Tanqueray sah selbstzufrieden drein.
Voiseys Gesicht verfinsterte sich.
»Allerdings dient es meiner Ansicht nach diesem Zweck nicht, wenn wir ihnen das Recht auf Menschenwürde und ungestörtes Privatleben verweigern, das wir ganz selbstverständlich für uns in Anspruch nehmen«, fuhr Jack fort.
Verblüfftes Schweigen trat ein. Verwirrt wandten sich Abgeordnete wie Zuschauer einander zu. Was mochte er damit meinen?
»Sitzt hier irgendjemand, dem es recht wäre, wenn Polizeibeamte seine Wohnung durchsuchten?«, fragte Jack und sah in die Runde. »Wenn sie seine Briefe läsen und seine Habe durchwühlten?«, fuhr er fort. »Womöglich sogar seine Kleidungsstücke und andere persönlichen Gegenstände, sein Schlafzimmer, sein Arbeitszimmer, ja, sogar die Kleider, Unterröcke und Handschuhe seiner Frau, weil sie vermuten, dort könne etwas verborgen sein, was er dem Gesetz nach nicht haben darf?«
Lautstark drückten einige Abgeordnete ihre wütende Ablehnung aus. Sie wandten sich fragend einander zu, als wollten sie sich vergewissern, dass solch abwegige Gedanken unmöglich Unterstützung finden könnten.
Emily stöhnte auf und schloss die Augen. Sie saß mit starren Schultern vorgebeugt da, die Hände im Schoß verkrampft.
Charlotte merkte, dass sie Angst hatte. Ihr war bekannt, dass auf Patronage angewiesen war, wer in der Gesellschaft wie in der Politik Erfolg haben wollte. Man hätte glauben können, Jack, der kurz vor dem Aufstieg stand, für den er so hart gearbeitet hatte, lege es darauf an, sich mit seinen Worten Feinde zu machen.
»Sofern man der Polizei diese Möglichkeit gibt«, fuhr er mit unerbittlicher Offenheit fort, als wolle er sein Schicksal endgültig besiegeln, »was kann sie dann, von nichts als einfacher Neugier getrieben, nicht alles tun? Die Rechnung Ihres Weinlieferanten lesen? Briefe Ihres Schneiders, Ihres Bankiers, Ihres Schwiegervaters … oder gar, Gott behüte – solche Ihrer Geliebten?« Vereinzelt ertönte Lachen, das aber nichts mit Erheiterung, sondern eher mit Hysterie zu tun hatte.
»Und was werden die Dienstboten tun?«, fragte Jack, wobei er betont die Achseln hob.
Emily setzte sich aufrecht hin und reckte den Hals, so weit sie konnte.
»Wenn die Polizei im Haus sämtliche Habseligkeiten aller
Bewohner durchsucht, hat die Köchin den Vorwand, den sie schon lange sucht: Sie kündigt!« Das war eine schreckliche Vorstellung, denn wer eine gute Köchin hatte, wollte sie auf keinen Fall verlieren. Häufig hing von ihr ab, welches Ansehen eine Familie in der Gesellschaft genoss.
Stumm zollte
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