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Flammen um Mitternacht

Flammen um Mitternacht

Titel: Flammen um Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Fenster zu schweben. Jedenfalls war er
näher gekommen. Jetzt würde auch der Jaguarfahrer lesen können, welcher
Markenname den Bauch des Luftschiffs mehrfarbig schmückte.
    Wieder nahm
Gunter die Belege zur Hand.
    Im Nebenraum
hatte Claudia Schoeffe ein großes Fenster geöffnet.
    Nicht alle
Fenster dieser Wohnung ließen sich öffnen — befand man sich doch immerhin im
12. Stock, und die Klimaanlage funktionierte bisweilen. Aber hier, im
Damenzimmer, wo dieses Frauenzimmer sich häufig aufhielt, konnte man nach
Herzenslust lüften.
    Sie beugte
sich hinaus.
    Außen, etwa
einen Meter unterhalb der Fensterkante, verlief ein handbreiter Sims.
    Kühler Wind
strich vorbei. Aber — ja, das Blatt Papier war noch da.
    Sie zog den
Kopf zurück. Sie griff nach einer Schachtel, die auf einem Regal lag, und
schluckte die dritte dieser Pillen, die sie von Werner bekommen hatte.
    Dann nahm
sie den Metallbecher, in dem ein Tauchsieder steckte: ein Gerät zum Erhitzen
kleiner Wassermengen — wenn es darum geht, sich ohne Elektroherd eine Tasse
Pulverkaffee oder ein Glas Tee zu bereiten.
    Der
Tauchsieder — bestehend aus Griff und Metallspirale — verfügte über ein zwei
Meter langes Kabel. Eine Steckdose befand sich unmittelbar neben dem Fenster.
    Claudia
Schoeffe schob den Stecker in die Steckdose und stellte Becher samt Tauchsieder
hinter den Vorhang links vom Fenster. Der Becher enthielt kein Wasser.
Innerhalb kurzer Zeit würde sich der Tauchsieder erhitzen, die Metallspirale zu
glühen anfangen.
    Sie griff
nach einen Spazierstock, einer antiquarischen Kostbarkeit aus schwarzem Holz
und silbrigem Knauf.
    Werner
Honold hatte dieses Prachtexemplar großbürgerlicher Gehstütze vor einiger Zeit
in einem Restaurant geklaut, wo es neben Schirmen im Schirmständer der
Garderobe stand.
    Sie stellte
sich ans Fenster.
    Für einen
Moment schloß sie die Augen.
    Dann
quietschte sie schrill, als hätte sich der Schreck persönlich den großen Zeh
oder einen Finger gequetscht.
    „Um Himmels
willen! Der Zettel! Der Zettel mit Heidenreichs Zahlungen!“
    „Was ist?“
rief Gunter.
    „Der Zettel!
Ach, bitte! Kommen Sie doch mal! Vielleicht erwischen wir ihn noch.“
    Gunter ließ
einen gefälschten Beleg fallen, sprang auf, dachte: Wieso? Hat da ein Zettel
plötzlich Beine gekriegt? und rannte nach nebenan.
    Verwundert
sah er, wie sich die Frau aus dem Fenster beugte und mit einem noblen
Spazierstock an der Hauswand herumstocherte.
    „Ich reiche
nicht hin“, jammerte sie. „Ist außer Reichweite! So’n Kack! Gerade der Beleg
war’s! Wenn der runtergeweht wird — den finden wir nie!“
    Gunter schob
den Kopf ins Freie.
    Wind
umfächelte ihn.
    Er sah den
Sims, diesen nutzlosen Betonstreifen, der vermutlich entstanden war, um den
Pfusch einer überstehenden Massivdecke zu kaschieren (verdecken).
    Links vom
Fenster lag ein maschinebeschriebener Bogen aus gelblichem Papier auf dem Sims.
    Die Spitze
des Spazierstocks verfehlte den Bogen um knapp eine Handspanne. Der Bogen
zappelte im Wind, schien sich aber in Fuge oder Ritze festzukrallen, blieb
jedenfalls dort, statt in die Tiefe zu segeln.
    „Den haben
wir gleich“, sagte Gunter.
    Er blickte
in die Tiefe. Ein Zwölf-Stockwerke-Abgrund öffnete seinen Schlund, bereit, den
Happen aufzunehmen — und zu vernichten: den Happen, der da schwindelfrei und
tollkühn auf seine — des Schlundes — Zahnreihe kletterte. Denn Gunter schwang
ein Bein über die Fensterbank.
    „Sie wollen
doch nicht etwa rausklettern“, sagte Claudia Schoeffe.
    „Keine
Sorge.“
    „Aber Sie...
Sie... wenn Sie runterfallen!“
    „Ich falle
nicht.“
    Er saß jetzt
rittlings auf der Fensterbank, schwang auch das zweite Bein hinaus, suchte Halt
mit dem Fuß, spürte, wie der Wind an ihm zerrte, und hielt sich mit der linken
Hand am unteren Teil des Fensterrahmens fest.
    Es war schon
ein blödes Gefühl — so mit dem Rücken zum Abgrund. Und der Sims bot nur Platz
für Schuhgröße 36, nicht für Gunters Specksohlen-Elbkähne.
    An die Wand
gepreßt, schob er sich vor.
    Er mußte die
Beine grätschen. Während das linke gestreckt blieb, ging er auf dem rechten in
tiefe Kniebeuge hinab.
    Seine Wange
rieb sich am rauhen Beton der Außenmauer. Dicht vor seinem Auge war Vogeldreck
zu einem ornithologischen Grafitto verkrustet (Ornithologie = Vogelkunde;
Grafitto = Wandinschrift).
    Der Wind
fuhr unter seine Tweedjacke.
    Wie eisig in
den Achselhöhlen!!!
    Daran merkte
er, daß er doch etwas schwitzte. Aber es war

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