Flammen um Mitternacht

zog kleine Kreise, scheinbar über den
Hochhäusern, bewegte sich allerdings im Zeitlupentempo — sollte doch niemandem
der Sehnerv schlackern, wenn er die Werbeaufschrift las.
    „Ich bin
noch nie im Zeppelin gefahren“, sagte Locke.
    „Ich auch
nicht. Und ich hatte nie das Empfinden, daß mir was fehlt.“
    „Ich war
noch nie in der Karibik, nicht in Thailand, nicht mal in Monaco. Ich kann weder
reiten noch surfen. Ich nehme keine Drogen, komme nur selten in ein
Feinschmeckerlokal, finde, daß man in diesem Land ganz gut leben kann, und
freue mich auf meine Zukunft. Sag mal, Tom: Bin ich beknackt?“
    „Das nicht,
aber hoffnungslos altmodisch“, grinste er. „Und keine Spur weitläufig. Ganz
nebenbei bist du das tollste Mädchen zwischen Flensburg und
Garmisch-Partenkirchen — für mich jedenfalls.“
    „Diese
Einschränkung brauchst du nun auch nicht zu machen. Es gibt noch andere, die
meine Lockenpracht lieben.“
    Er lachte,
sie lachte. Wirklich — sie waren in bester Stimmung, als sie jetzt die
Grünfläche erreichten und ihre Roller auf den Weg lenkten.
    Das war zwar
untersagt, und ein Verbotsschild warnte. Aber schließlich kann man seine Augen
nicht überall haben, und solche Einengung der persönlichen Freiheit vom Amts
wegen übersahen sie geflissentlich immer.
    „Demnächst
mache ich mal wieder ein Foto von dir“, sagte Tom.
    Die
Werbeaufschrift des Zeppelins hatte Anstoß gegeben zu dem Gedanken.
    Dann wurde
sein Blick starr, und er bremste den Roller scharf ab.
    „Locke,
spinne ich? Was ist denn da oben los?“
    „Wo?“
    „Am
mittleren Haus, ganz oben, im zwölften... Himmel, die Wohnung in der Mitte! Das
muß die von Honold sein.“
    Jetzt sah
auch Locke, daß dort jemand aus dem Fenster gestiegen war und — rätselhaft, wie
er das machte — an der Mauer hing: nein, auf Vorsprüngen stand, was die
Grätschhaltung verriet, und...
    „Tom! Das
ist mein Papi!“
    „Was?“
    „D…ddd…och!
Jaaahhh! Ich erkenne es an der Kleidung. Er hat das grüne Tweedjacket an... und
eine blaue Hose, die überhaupt nicht dazu paßt. So blöd zieht nur er sich... O
Gott! Was soll denn das?“
    „Du kannst
recht haben. Das ist er.“
    Sie starrten
in schwindelnde Höhe hinauf. Beider Pulszahlen hatten sich verdoppelt. Die
Motoren töfften lustlos vor sich hin und erstarben dann einträchtig, fast in
der gleichen Sekunde.
    In der
Stille hörte man nichts als den Wind.
    Wie heftig
gebärdete sich der wohl dort oben?
    Gunters
Jacke schien zu flattern.
    In dem
Fenster, an dem er sich offenbar mit einer Hand festklammerte, gewahrten sie
den Umriß einer blau gekleideten Frau. Claudia Schoeffe, natürlich.
    Sie beugte sich
vor. Jetzt bewegte sie die Hand.

11. Gerettet
     
    Der Schock
wich. Eine Gewißheit durchströmte Gunter — die Gewißheit, daß ihn nichts dazu
bringen würde, seine Hand von der Fensterkante zu lösen.
    ...und wenn
sie mir das Fleisch bis auf die Knochen verschmort!
    Sicherlich —
hätte ihn der brutale Schmerz hinterrücks getroffen, unvorbereitet — dann wäre
sein Schicksal besiegelt gewesen. Im ersten Schreck hätte er losgelassen und
wäre in der Tiefe zerschmettert.
    Aber diese
ihre Chance war verpaßt.
    „Hallo, Sie!“
hörte er eine fröhliche Stimme unter sich.
    Unwillkürlich
senkte er den Blick und sah zwischen seinen Beinen hindurch.
    Aus einem
Fenster im 11. Stock lehnte sich der Jaguarfahrer, jener ältere Herr, der den
japanischen Markennamen mit dem falschen Produkt in Verbindung brachte.
    „Was machen
Sie denn da?“ fragte er neugierig. „Sind sie der Fensterputzer?“
    „Ich bin
Alpinist (Bergsteiger im Hochgebirge)“, sagte Gunter gallig. „Und
manchmal überkommt’s mich.“
    „Interessant!
Übrigens: jetzt kann ich lesen, was auf dem Zeppelin steht.“
    „Schön für
Sie.“
    „Ehrlich!
Die Zahncreme kann ich nur empfehlen!“
    „Ich habe
keine Zähne mehr“, sagte Gunter.
    „Aber Sie
sind schwindelfrei, nicht wahr? Das ist auch was wert.“
    „Im
Gegenteil! Es bringt einen in die gefährlichsten Situationen.“
    Nach einem
kurzen Blick auf den Alten, hatte Gunter längst wieder den Kopf gehoben.
    Während er
mit dem Mann redete, ließ er kein Auge von Claudia Schoeffe.
    Der
Jaguarfahrer, der ältliche, hatte sich nunmehr sattgesehen an der
werbewirksamen Himmelszigarre — und schloß das Fenster.
    Vielleicht
war er auch ungehalten, weil er sich von Gunter genarrt fühlte.
    Dessen Hand
begann zu erlahmen. Die Finger starben ab, kribbelten