Flammenbraut
wenn es länger her wäre als ein paar Stunden. Entweder hat der Mörder seine Vorlagen nicht ordentlich genug studiert, oder er ist nicht so geduldig wie sein Vorgänger. Er will keine Woche warten. Und ganz sicher kein Jahr.«
»Ich bereue die Frage sicher gleich«, sagte Angela, »aber was meinen Sie mit ›kein Jahr‹?«
»Ich bereue die Antwort sicher auch gleich. Das Opfer vom Montag, die junge Frau, die man zerteilt und in den Lake Erie geworfen hat …«
»War auch die Kopie eines der Torso-Morde?«
»Seines ersten, ja, zumindest soweit man weiß. Man nannte sie die Frau aus dem See. Teile von ihr – nicht der Kopf – wurden am Ufer in Euclid angespült, doch da ein Jahr verging, bis man die zwei Männer auf dem Hügel fand, brachte erst einmal niemand ihren Tod mit der eigentlichen Mordserie in Verbindung. Deshalb hat man zurückgerechnet und sie im Nachhinein als Opfer null bezeichnet.«
»Wenn wir also davon ausgehen, dass Kim Hammond nicht von einem Freund oder durch einen verrückten Bootsunfall getötet wurde, dann hat dieser neue Täter den damaligen zeitlichen Ablauf missachtet. Ein Jahr wurde zu zwei Tagen«, erklärte Frank.
Theresa versuchte diese Theorie zu widerlegen. »Aber die erste Frau aus dem See war schon Monate tot gewesen, bevor sie an die Oberfläche trieb, zudem war ihre Haut gegerbt. Das trifft nicht auf Kim zu.«
Angela sah sich stirnrunzelnd im Licht der hellen Halogenleuchten um. »Null, eins und zwei. Wie viele waren es gleich noch mal insgesamt?«
»Zwölf«, erwiderte Frank, »zumindest offiziell.«
»Tatsächlich wahrscheinlich doppelt so viele«, fügte Theresa hinzu.
»Tess, kannst du ihn identifizieren?«, erkundigte sich Frank.
»Ich kann nicht einmal sicher sagen, dass der Täter ein Er war. Von der Größe her nehme ich es an. Eine Gestalt, dunkel gekleidet. Ich habe das Haar nicht gesehen, vielleicht trug er eine Jacke oder einen Kapuzenpulli oder eine Maske, oder vielleicht hatte er einfach dunkles Haar.«
»Gewicht?«
»Schwer, schätze ich. Aber du weißt, dass ich das schlecht beurteilen kann.«
»Nun, dann denk nach.«
Seite an Seite standen sie nebeneinander, den Schienen den Rücken zugekehrt, Gesicht zu den Leichen, und warteten auf Verstärkung, damit der Tatort endlich dokumentiert und mit größtmöglicher Genauigkeit untersucht werden konnte. Theresa wusste, dass Frank sich jedes Detail notieren musste, ehe es aus ihrer Erinnerung verschwand, wenn das denn je der Fall wäre. Sie wünschte nur, er wäre ein wenig freundlicher. Sie hatte einen ziemlichen Schock erlitten, auch wenn sie es nicht zugeben wollte.
»Denk nach«, wiederholte er. »Größer als ich?«
»Ich glaube schon, ja.« Theresa runzelte die Stirn. Es klang nach einer Vermutung, und Vermutungen sollte sie nicht anstellen. Nur verifizierbare Fakten, Ma’am.
»Locker sitzende Kleidung?«
»Ich glaube schon.«
»Brille?«
»Ich habe keine Reflexion gesehen.«
»Irgendein Glitzern? Schmuck? Eine Uhr? Ein Aufdruck auf seinem Pullover?«
»Nein, nichts.«
Frank seufzte frustriert und bemerkte dann: »Er hat die Schaufel mitgenommen.«
»Hatte wohl Angst, dass man sie zu ihm zurückverfolgen könnte. Wohin ist er verschwunden? Ich dachte, die Straße endet hier.«
»Nein. Das hier ist mehr oder weniger nur ein Schotterweg für die Bahn, aber er verläuft zwei Meilen entlang der Schienen und über zwei Brücken, dann mündet er in die Canal Street. Von dort aus hätte er auf die Carnegie Avenue gelangen und verschwinden können.«
»Großartig. Wir müssen den Weg also auf zwei Meilen nach Reifenspuren untersuchen.«
»Dafür haben wir ja Leute, die für Straßen zuständig sind. Tess …« Franks Stimme wurde hart. »Hat er dich gesehen ?«
Wieder stand sie neben den Schienen, als der Zug auf sie zuhielt und seine Scheinwerfer das ganze Tal erleuchteten, vor allem aber sie, ihre weiße Haut und die hellen Strähnen in ihrem Haar erstrahlen ließen. Das Tuten des Zuges durchschnitt ihr Herz, bis es schmerzte. Der Schatten drehte sich um. Der Schatten blickte sie an.
Sie zitterte nicht nur wegen des nächtlichen Temperaturabfalls. »Ja. Er hat mich gesehen.«
18
Mittwoch, 8. September
Die frühere Armeekrankenschwester wohnte in einem hohen Gebäude in Westlake, das sich »Gracious Community Living« nannte, doch wie Irene Schaffer Martin Theresa gleich nach der Begrüßung erklärte, war es »ein Ort, an den alte Menschen zum Sterben gehen«.
Theresa hatte die Lobby
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