Flammenbraut
dass ich mich die ganze Zeit auf der Straße herumgetrieben habe, um nicht in diesem Haus sein zu müssen. Die älteste Tochter meiner Tante liebte Babys, weshalb ich ihr meinen Bruder aufhalste und … flüchtete.«
Theresa nahm einen weiteren Schluck Tee, der auch ohne Sahne und Zucker gar nicht so schlecht schmeckte. »Wo sind Sie hingegangen?«
»Edgewater Park, im Sommer; im Winter habe ich mich in den Brookside Zoo geschlichen. Da waren kaum Besucher, und der alte Pförtner sah mich so oft dort, dass er wohl dachte, ich gehöre zu einem der Angestellten, weshalb er auch nie nachfragte. Ich bin immer durch das Elefantengehege eingestiegen. Den Elefanten war das egal. Waren Sie schon mal im Winter dort? Sie sollten mal die Eisbären im Winter sehen.«
»Das werde ich bestimmt bei Gelegenheit nachholen.«
»Aber ich bin auch oft runter zu den Zügen gegangen. In der fünften Klasse hatte ich eine Freundin namens Doris, ihr Vater war Schaffner bei der Erie Railroad. Wir sind die West Third Street hinuntergelaufen zu den Depots und haben auf ihn gewartet, bis er aus Pittsburgh zurückkam. Nach dem großen Crash hat er seinen Job verloren, und die Familie ist wegen eines neuen Jobs nach Illinois gezogen, aber ich bin danach immer noch zu den Zügen gegangen und habe mich gefragt, wo sie wohl hinfuhren. Ich wünschte mir, ich hätte mitfahren können. Damit fing es wohl an.«
»Was fing an?«
»Dass ich in der Navy gelandet bin, als sie rekrutiert haben. So jung, wie ich war, dachte ich, Krankenschwester könnte ich überall sein. Ich würde niemals wie meine Mutter an einem Ort hängen bleiben.«
»Und das hat funktioniert?«
»Fast zu gut – auf den Philippinen war es gar nicht einfach, das kann ich Ihnen sagen. Aber ich greife meiner Geschichte voraus. Also, damals war ich fünfzehn und habe mich bei den Gleisen herumgetrieben, wovon ich hoffe, dass es heutzutage kein anständiges fünfzehnjähriges Mädchen mehr tut. Nach und nach lernte ich Leute kennen, zum Beispiel einen Schaffner, der jeden Tag zwischen Cleveland und Chicago pendelte. Er hat mir immer ein Pfefferminzbonbon geschenkt; er war selber Vater, weswegen er wohl ein wenig auf mich aufgepasst hat. Dann war da noch der Ticketentwerter der Passagierlinie; er hat mit mir über Pferderennen geredet und wie er all seinen Besitz durch Ticker Tape verloren hat. Nicht auf dem Aktienmarkt, sondern durch ein Pferd namens Ticker Tape. Ich weiß immer noch nicht, ob er irgendwie besessen war von Pferderennen oder ob er es nur lustig fand. Dann war da noch eine Frau namens Sophie, die auf dem Bahnsteig herumhing und mir ab und zu eine Zigarette gab und mir das Haar frisierte, es zu einem Knoten schlang, den ich selber nie schaffte. Heute weiß ich, dass sie eine Prostituierte war, damals wusste ich es allerdings nicht und hätte auch nur eine vage Vorstellung davon gehabt, wenn es mir jemand gesagt hätte. Damals waren die Jugendlichen noch anders.«
Theresa blickte an Irene vorbei auf ein Foto im Bücherregal, das eine junge Frau in einer Militäruniform zeigte, die mit einer Zigarette zwischen zwei Fingern an einer Ziegelmauer lehnte. Irene konnte damals nicht älter als zwanzig gewesen sein, groß und stark, mit einem burschikosen Glitzern in den Augen.
»Was ich damit sagen will, ist, dass ich keine Angst vor den Leuten hatte, die ich dort kennenlernte. Ich hatte nie einen Grund dazu, und genau das stellte sich schließlich als das Problem heraus. Noch Tee?«
»Gern.« Offensichtlich würde Irene Schaffer diese Geschichte in ihrem Tempo erzählen, und Theresa wollte sie nicht länger drängen. Sie fragte sich, was aus den drei Kindern geworden war, doch sie hatte nicht die Zeit, sich die Geschichte jedes einzelnen anzuhören. Und Irene hätte vielleicht sowieso nur erklärt, dass sie nie anriefen oder vorbeikamen, was Theresa überhaupt nicht hören wollte. War es das? Man hat eine Menge erlebt in seinem Leben und endet dann in einem winzigen Zimmer, das man sich mit jemandem teilt, in einem Gebäude voller Fremder, gefangen im gebrechlichen Körper?
Doch dann sagte sie sich, dass Irene keineswegs traurig wirkte. »Warum haben Sie eine Bank überfallen?«
Die Frau kicherte wie ein Teenager mit einem wunderbaren Geheimnis. »Wenn Sie die Geschichte hören wollen, junge Dame, dann müssen Sie noch einmal herkommen. Sie werden doch kommen und mich wieder besuchen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Gut. Also, eines Tages«, fuhr Irene fort, nachdem die
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