Flammenbraut
Eine ganze Flasche, nur für mich. Das hat meine Laune für eine Weile wieder gehoben. Nur für eine Weile, denn da musste er es hineingetan haben.«
»Was hat er hineingegeben?«
»Was auch immer er mir gab, um mich zu betäuben, denn meine nächste Erinnerung ist, dass ich auf einem Feldbett in einem anderen Zimmer aufwachte und Dr. Louis meine Bluse aufknöpfte.«
Theresa wagte kaum zu atmen. »In was für einem anderen Zimmer? Was haben Sie getan?«
»Zuerst konnte ich mich nicht bewegen, meine Arme waren so schwer. Er hat immer wieder gesagt, ich solle keine Angst haben, das würde nicht wehtun, er würde nur meine Gelbsucht untersuchen, aber selbst mit fünfzehn war ich nicht so dumm und hätte ihm eine reingehauen, wenn ich nicht so benommen gewesen wäre. Doch als er mir meinen Büstenhalter abgenommen hatte und seine Lippen … nun, da habe ich ihm trotzdem eine verpasst.«
»Was passierte dann?«
»Er fiel nach hinten auf den Boden – er hatte neben dem Feldbett gekauert und war wohl nicht ganz sicher auf den Beinen gewesen … Ich bin über ihn drübergesprungen und raus zu der Tür, die in sein Büro führte. Wir waren in einem kleinen Schrank oder Abstellraum hinter seinem Schreibtisch gewesen. Zum Glück hatte er seine Bürotür nicht abgeschlossen, und ich bin raus aus dem Haus und bis zu meiner Tante gerannt.«
»Haben Sie geschrien?«
»Den ganzen Weg bis nach Hause.«
»Kam Ihnen jemand aus dem Gebäude zu Hilfe?«
»Da war es schon dunkel. Ich weiß nicht, wie lange der Bastard mich da drin festgehalten hatte, aber es müssen mindestens sechs Stunden gewesen sein. Er hat mich unter Drogen gesetzt und dann gewartet, bis alle nach Hause gegangen waren.«
Oder er hatte Termine am Nachmittag, die er nicht absagen konnte, dachte Theresa, und er wollte viel Zeit allein mit seiner Beute haben. Die Polizei hatte schon damals die Theorie gehabt, dass der Torso-Mörder seine Opfer irgendwo hingelockt und betäubt hatte, was erklären würde, warum sie keine Abwehrverletzungen aufwiesen und sich auch keine Essenreste im Magen befanden.
Doch auf der anderen Seite hatte der Butcher junge Männer bevorzugt, manchmal auch ältere, kaum Frauen. Niemals junge Mädchen. Vielleicht hatte er sich aber auch erst nach Irene Schaffer entschieden, dass diese zu problematisch waren.
»Haben Sie es Ihrer Mutter erzählt?«
»Jedem habe ich es erzählt. Mein Onkel hat die Polizei verständigt, und die kamen zu uns nach Hause. Am nächsten Tag sind sie mit mir zu dem Gebäude gefahren, um Dr. Louis zu identifizieren, was ich auch tat. Habe mir beinahe in die Hosen gemacht dabei, aber ich stand zwischen den beiden Cops und habe ihn beschuldigt.«
»Was hat er gesagt?«
»Hat genickt und gelächelt und der Polizei erklärt, ich käme ab und zu bei ihm vorbei und würde ihn um ein Almosen anbetteln; ich täte ihm leid, weshalb er mir einmal einen Apfel und ein Pfefferminzbonbon gegeben hätte. Er sagte, am Tag zuvor hätte er nichts für mich gehabt, woraufhin ich wütend geworden sei und ihm gedroht hätte, er würde es noch bereuen.«
»Sie haben ihm geglaubt?« Theresa stellte sich den Mann auf Edward Corliss’ Foto vor, groß und gut gekleidet, wie er seine Version der Ereignisse in diesem selbstsicheren, professionellen Ton erzählte, der die Jurys bei Prozessen immer noch mehr beeinflusste, als es eine Frau je vermochte.
»Die Zeiten waren damals andere«, wiederholte Irene Schaffer. »Ärzte waren wie Götter. Ich war eine Herumtreiberin, und es gab keine Zeugen. Offensichtlich hatte er keine Akte, und damals verfügte man ja noch nicht über Computer, die einem eine Karte ausspuckten, auf der die Wohnorte sämtlicher Aufreißer verzeichnet sind.«
Theresa kaute an ihrem Daumennagel. »Und Sie glauben, der Mann könnte der Torso-Mörder gewesen sein?«
»Man hat immer gesagt, es handele sich um einen Arzt, und das Büro befand sich gleich bei Kingsbury Run. Dr. Louis hat sich bei den Gleisen aufgehalten, unten an der West Third und der Abbey Street Bridge, wo man einige Leichen gefunden hat. Nicht an den Nägeln kauen, meine Liebe.«
»Die Polizei hat damals jeden in der Stadt kontrolliert, der einen Eintrag wegen sexueller Belästigung hatte. Vielleicht haben sie ihn ja überprüft.« Theresa erlaubte sich gar nicht erst den Wunsch, die Originalakten zu lesen. Sie wusste aus Büchern zu dem Thema, dass über die Jahre nahezu das ganze umfangreiche Ermittlungsmaterial verloren gegangen war.
»Der
Weitere Kostenlose Bücher