Flammenbraut
– man sieht die üblichen Mitfahrer jeden Tag und kann irgendwann nicht mehr genau unterscheiden. Diese Zeugen sind nicht hundertprozentig zuverlässig. Sie können Forrest gestern oder vorgestern oder noch früher gesehen haben. Alle haben letzten Abend Nachrichten geschaut oder heute Morgen Zeitung gelesen, und jetzt sind sie so außer sich, dass sie auch schwören würden, Elvis begegnet zu sein.«
»Aber wenn die Zeugen recht haben, hat der Killer Mr. Forrest erwischt, nachdem er ausgestiegen ist.«
»Was ein Zeitfenster von vierzehn Minuten ergibt vom Verlassen des Zuges bis zum Beginn seiner Schicht, während dem er eigentlich zum Ford-Werk hätte laufen sollen. Die Polizei sucht gerade den Parkplatz an der Station Brookpark ab.«
Damon beendete seine Arbeit mit der Knochensäge und nahm die Schädelplatte ab, was eine gewisse Kraftanstrengung erforderte. Außerdem erschwerte das fehlende Gegengewicht des Körpers diese Aufgabe, weshalb Christine den Kopf am Hals und den Haaren im Nacken festhielt. Zusammen schafften sie es, die Schädelplatte zu lösen. Zoe wartete geduldig mit der Kamera in der Hand. Christine meinte zu Theresa: »Vielleicht hat der Mörder Dunlop angegriffen, und Forrest versuchte zu helfen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht – Forrest klingt ganz wie jemand, der sich bei so etwas einmischen würde. Aber der Mörder musste zwei Männer töten, um die Morde von 1935 nachzustellen. Zwei erwachsene, kräftige Männer. Dieser Kerl weiß, wie man sich Menschen nähert.«
Levon Forrests Gehirn wurde sichtbar, rosa und verschlungen und der allgemeinen Vorstellung von einem Gehirn so ähnlich, dass es schon fast unwirklich wirkte. Durchbrochen wurde die Perfektion nur von dem kleinen Blutpfropfen am Okzipitallappen. Christine fuhr mit den Fingern darüber und murmelte vor sich hin: »Stimmt mit der Schädelfraktur überein.«
Theresa beugte sich ebenfalls über das Gehirn. »Hätte ihn das bewusstlos gemacht?«
»Warum … Ich weiß es nicht. Möglich. Ich bezweifle, dass die Verletzung ihn umgebracht hat, mir scheint der Pfropfen nicht groß genug, als dass er die Gehirnfunktionen ernsthaft beeinträchtigt haben könnte.«
»Was hat ihn dann umgebracht?«
»Die Entfernung seines Kopfes«, erwiderte Christine. »Ja, das wird es gewesen sein.«
Sie schnitt das Gehirn heraus, das Rückenmark glitt mühelos mit, da es ja schon vom Rückgrat abgetrennt worden war, und legte es auf die Waage. Damon trocknete die Schädelinnenseite mit einem Tuch, während Zoe fast geduldig auf ihren Einsatz wartete. Der andere Pathologe im Raum war nicht so effektiv wie Christine und hatte die äußere Untersuchung von Richard Dunlop noch nicht abgeschlossen, während er sorgfältig jeden Fleck auf Dunlops junger Haut vermerkte, Prellungen, Abschürfungen, Einstichspuren. Theresa beschloss, nicht auf ihn zu warten, und verließ zur Enttäuschung des männlichen Pathologen und seiner Assistenten den Obduktionssaal. Rasch kehrte die Unterhaltung zu den Indians zurück und ob diese ihren Platz in der Third Division verdienten.
22
Dienstag, 24. September 1935
James Miller betrat das Gebäude mit der Anschrift 4950 Pullman Street. In dem halben Jahr, seit Irene Schaffer daraus geflohen war, schreiend und halb nackt, hatte es sich nicht wesentlich verändert.
Wie bei ihrem ersten Besuch trafen Walter und er Dr. Louis Odessa in seinem Büro an, als er gerade eine gut frisierte Dame in einer eleganten Wolljacke aus der Tür geleitete. Sie dankte ihm überschwänglich für seine Dienste und verabschiedete sich mit dem Versprechen, alles sorgfältig aufzuschreiben, was sie zu sich nahm, absolut alles. James warf seinem Partner einen warnenden Blick zu, da er wusste, was dieser auf eine solche Vorlage hin erwidern würde.
Odessa bat sie in sein Büro, offensichtlich unbesorgt wegen ihres unerwarteten Auftauchens. Es gab immer noch keinen Wandschmuck, doch auf den Regalen standen mehr Bücher und Flaschen. »Guten Tag, Gentlemen. Was kann ich für Sie tun?«
Walter machte es sich auf einem der Stühle für Gäste – oder Patienten, wie es Odessa vermutlich ausgedrückt hätte – bequem. »Wir waren gerade in der Nähe und dachten uns, wir schauen mal vorbei, ob Sie irgendwelche jungen Mädchen in Ihrem Schrank festhalten.«
Der Mann lachte leise. James spürte Wut in sich aufsteigen, als er sich an den Tag erinnerte, an dem er den engen Verschlag exakt so vorfand, wie Irene Schaffer ihn beschrieben hatte.
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