Flammenbraut
Ich säge keine Gliedmaßen ab oder schaue mir Zähne an oder bringe Babys auf die Welt.« Aus seinem Mund klang es so, als lägen derlei Trivialitäten unter seiner Würde.
»Vitamine?«
»Ich bitte um Verzeihung?«
»Geben Sie Ihren Kunden Vitamine?«
»Ja. Vitamine – und Mineralien – sind die wichtigste Verteidigungslinie zwischen uns und dem Grab.«
Walter schaltete sich ein. »Haben Sie auch Vitamin A hier?«
»Ja. Warum, Detective, leiden Sie unter Nachtblindheit?«
»Was?«
»Ein Vitamin-A-Mangel kann zu Nachtblindheit führen, die Schwierigkeit, im Dämmerlicht zu sehen. Doch man darf auch nicht vergessen, dass es …«
James legte Fotografien der zwei Opfer vom Jackass Hill auf den Schreibtisch, in der Hoffnung, den Schleimer vor allem mit dem halb verwesten Gesicht des zweiten Opfers zu schockieren. »Kennen Sie diese beiden Männer?«
»Nein.«
Die Antwort war sehr schnell gekommen. »Sind Sie sicher?«
»Ja.« Odessa wartete auf eine weitere Frage und sah dabei zwischen James und Walter hin und her. Er warf keinen zweiten Blick auf die Fotografien.
Ein Gauner und ein Wanderarbeiter, dachte James, die von einem Mann getötet wurden, der vermögend genug war, um ein Auto für den Transport zu besitzen. Wie käme so jemand mit einem Abschaum wie Andrassy in Kontakt? Er muss ein Chamäleon sein, oder er hat einen Beruf, der ihm alle Türen öffnet. Ein Arzt zum Beispiel.
James holte die unbekannte Tablette hervor und legte sie auf den Tisch. »Wissen Sie, was das ist?«
Louis Odessa nahm die kleine weiße Pille auf und griff nach einem Vergrößerungsglas in einer Schublade. Nach langer Inspektion legte er sie an die Tischkante und meinte: »Ich würde sagen, es handelt sich entweder um Niacin oder Folsäure. Ich habe etwas davon hier …« Nachdem er zwei Flaschen aus seiner Sammlung genommen hatte, erklärte er, sie wäre den Vitamin-B1-Tabletten am ähnlichsten, die er von einer großen Pharmafirma in New York gekauft hätte. »Nicht ganz dieselben«, fügte er hinzu, auch wenn für James beide Tablettensorten gleich aussahen, »aber ich denke, es handelt sich hier um eine Vitamin-B1-Art. Genau könnte ich es Ihnen allerdings nur nach einer chemischen Analyse sagen.«
»Warum würde ein Arzt eine solche Pille verschreiben?« James versuchte es mit ein bisschen Einschmeicheln. Walter verdrehte die Augen bei der Vorstellung, grundsätzlich gesunden Menschen Tabletten zu verordnen.
»Es hilft gegen Beriberi – unter Orientalen sehr verbreitet, den armen Teufeln, die überwiegend von Reis leben – und Diabetes. Auch Alkoholiker können einen Mangel daran haben und eine Nahrungsergänzung benötigen.«
»Und Sie haben diese Männer wirklich noch nie gesehen? Einzeln oder auch zusammen?«, fragte James erneut ganz unvermittelt.
»Nein, habe ich nicht. Möchten Sie beide mit mir über Ihre Ernährung sprechen? Ich habe noch einige Minuten Zeit bis zu meinem nächsten Patienten. Nein? Sind Sie sicher? Denn Sie benötigen entweder frisches Obst oder Vitamin-C-Tabletten, sonst erkranken Sie noch an Skorbut, und Sie …«, sein Blick wanderte zu Walter, »… sollten weniger hochkalorische Nahrung zu sich nehmen.«
James’ stämmigem Partner gefiel die Richtung, die das Gespräch genommen hatte, gar nicht, weshalb er abrupt aufstand. »Nein danke. Wir müssen gehen. Aber wir behalten Sie im Auge, falls Sie noch mehr kleine Freundinnen mit hierherbringen.«
Odessa lächelte unverdrossen, doch nicht mehr ganz so selbstsicher wie noch zuvor.
James folgte seinem Partner in den Flur. Sonnenlicht strömte durch die Vordertür gen Norden und die Hintertür nach Süden. Die Aufschrift auf der Milchglastür gegenüber von Odessas Büro lautete AURALINA DE MORELLI – MEDIUM . James hörte leise Stimmen hinter der Tür, von denen eine nach Luft schnappte. Gelächter drang aus einem offenen Büro, zwei Männer standen im Freien vor dem Hinterausgang. James tippte Walter am Ellbogen an und ging auf sie zu.
Die beiden Türen am Ende des Flurs hatten sich geöffnet. James warf unauffällig einen Blick in das Büro zu seiner Linken. Drei junge Männer in Hemdsärmeln saßen an Zeichentischen, zwei warfen sich gegenseitig harmlose Beleidigungen an den Kopf und wurden dafür von einer hübschen jungen Frau an einer Schreibmaschine getadelt.
Das Büro zu seiner Rechten beherbergte einen leeren Schreibtisch, zwei Stühle, ein kleines Waschbecken, Regale voller Bücher und zusammengerollter Skizzen,
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