Flammenbrut
hellte sich vor Erleichterung auf. «Oh, Gott sei Dank! Ich dachte schon, mein Gott, wenn dieser Scheißkerl uns
nach all der Zeit mit dieser Sache auseinandertreibt, dann bringe ich ihn um!» Plötzlich kehrten die Zweifel zurück. «Das
hat er doch nicht, oder? Du meinst es wirklich so?»
|58| «Natürlich meine ich es so.»
Noch während sie diese Worte aussprach, fragte Kate sich, ob es die Wahrheit war. Zwar regten sich weder Eifersucht noch Groll
in ihr, aber ein Keim der Enttäuschung hatte sich doch gebildet. Lucys Verachtung für Paul war immer eine beruhigende Konstante
gewesen. Jetzt erschien ihr diese Verachtung nicht mehr verlässlich. Auf einmal wollte Kate allein sein.
«Du gehst jetzt wohl besser», sagte sie. «Sonst kommst du zu spät zum Kindergarten.»
Lucy umarmte sie. «Ich ruf dich an.»
Kate beobachtete, wie ihre Freundin in der Menge verschwand. Dann ging sie durch das Drehkreuz und folgte dem Weg zur Victoria-Linie.
Sie ließ sich von der Rolltreppe in gemächlichem Tempo nach unten tragen, statt, wie gewöhnlich, hinunterzugehen.
Lucy und Paul.
Nicht einmal die Namen schienen zusammenpassen zu wollen.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Ein bärtiger Mann kam die gegenüberliegende Rolltreppe hinauf. In einem
Tragetuch auf seinem Rücken saß ein Baby und starrte die Leute auf Kates Seite an. Kate lächelte, als es sie entdeckte. Sie
sah ihm hinterher, aber plötzlich kam ihr ein Gedanke, der das Lächeln ersterben ließ.
Sie hätte ein Kind von Paul haben können.
Sie erreichte das untere Ende der Rolltreppe und trat mit einem langen Schritt auf die Metallplatte davor. Die Leute um sie
herum eilten zum Bahnsteig, wo ein Zug eingefahren war, aber Kate achtete kaum darauf. Langsam und ganz in die Erkenntnis
verloren, wie knapp sie davongekommen war, ging sie weiter. Sofern sie wirklich beschließen sollte, ein Baby zur Welt zu bringen,
würde sie verdammt gut aufpassen, dass es einen besseren Vater bekam, selbst wenn |59| sie nicht mit ihm zusammenlebte. Ob es sich um einen gesichtslosen Spender handelte oder nicht – bevor sie sich auf jemanden
einließ, musste sie sicher sein, dass es sich nicht um einen zweiten Paul handelte. Oder um ein noch schlimmeres Exemplar
der Gattung Mann.
Sie schauderte bei dem Gedanken. Sie hatte schon einmal einen schweren Fehler gemacht.
Diesmal würde sie vorsichtiger sein.
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|60| Kapitel 4
Als sie sechs Jahre alt war, hatte sich unweit ihres Elternhauses ein heruntergekommenes Vorstadtkino befunden. Es hatte schon
damals um seine Existenz kämpfen müssen und war später einer Spielhalle gewichen, auf die erst ein Supermarkt und zu guter
Letzt ein Parkplatz folgten. Aber Kate, die nie zuvor in einem anderen Kino gewesen war, störte sich nicht an dem kaugummigemusterten
Teppich und den abgewetzten Sitzplätzen. Sie waren Teil der verdunkelten Atmosphäre, ebenso wie das Rascheln von Popcorntüten
und der Zigarettenrauch, der sich in dem flackernden Lichtstrahl des Projektors zur Decke schlängelte. Die Bilder an der Leinwand
waren ein Fenster in eine andere Welt, und wenn sie sich in deren grellen Technicolor-Farben verlor, wurden der schäbige Vorführraum,
die Schule, ja sogar ihr Elternhaus zu etwas geisterhaft Substanzlosem.
Ihre Besuche in dem alten Kino waren selten, aber dafür umso kostbarer. Als sie herausfand, dass das
Dschungelbuch
wieder gezeigt werden sollte, machte sie es sich zur Lebensaufgabe, den Film zu sehen. Er war nicht gerade neu, aber da Kate
ihn beim ersten Mal verpasst hatte, spielte das für sie keine Rolle. Ihre Mutter sagte ihr, sie könnten ihn sich
bald
einmal gemeinsam ansehen; ein typisch vages Versprechen, |61| von dem sie bereits wusste, dass es
niemals
bedeutete, sofern sie nicht immer wieder nachhakte. Was Kate auch tat, bis ihre Mutter sich endlich bereitfand, eines Samstagmorgens
mit ihr in die Vorstellung zu gehen.
Zunächst stand allerdings das Ritual des Wochenendeinkaufs auf dem Programm. Kates Mutter hatte sich nicht ausreden lassen,
dass die besten Sonntagsbraten noch vor dem Ende des Films verkauft sein würden. Also war Kate am frühen Morgen hinter ihrer
Mutter hergetrottet und hatte in jeder Minute, die bei Metzger und Gemüsehändler draufging, Qualen ausgestanden, während ihre
Mutter alles einer gründlichen Prüfung unterzog, bevor sie es kaufte oder das Nächste in Augenschein nahm.
Als sie endlich den Kinosaal
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