Flammenbucht
Klang aus der Stille, getragen von wundervoller Schwermut. Ein zweiter, höherer Ton gesellte sich dazu, tastete sich an den ersten heran, bis beide in Harmonie ineinander glitten. Sie umschmiegten sich eine Weile, wanderten dann gemeinsam in rascher Folge aufwärts und bildeten eine Melodie. Die anschwellende Lautstärke der aufsteigenden Töne verlieh ihnen eine ungeheure Kraft. Voller Urgewalt bahnte sie sich ihren Weg, wurde nochmals abgebremst, um sich ein wenig leiser zu wiederholen. Weitere Klänge setzten ein; auch in ihnen war die aufsteigende Tonfolge zu erkennen; sie vermittelten den Eindruck eines Aufkeimens, ließen die Macht der Sphäre erahnen.
Zaghaft erhob Nhordukael selbst die Stimme. Sie fügte sich in das mal aufwärts, mal abwärts strebende Motiv, mischte sich mit ihm zu einem vollendeten Gesang. Nhordukael erkannte Worte in der Melodie, Satzfetzen, die sich zu einem Sinn verdichteten.
»Errettet aus den Flammen«, sang die Stimme, so klar, daß sie ihn im Innersten berührte. »Den Einflüsterungen des Weltenwanderers widerstanden und aus eigener Kraft in die Sphäre gedrungen. Voller Mut. Voller Wißbegierde.« Die Stimme lachte auf, und ihr Lachen drang wie ein Lichtstrahl in sein Herz. »Nun suchst du nach mir. Ich fühle mich geehrt, Nhordukael.«
»Woher kennst du meinen Namen?« fragte er. »Wer bist du?«
Die Melodie rauschte um ihn wie ein goldener Strom. »Manche nennen mich den Hüter der Sphäre; andere bezeichnen mich als den Blender, den Verhüller, den Herrn der Schatten. Nur wenige haben von mir gehört, doch jene, die mich kennen, fürchten meine Macht.«
»Ich kenne keine Furcht«, antwortete Nhordukael.
Wieder formten die Töne ein Lachen. »Ja, das ist wahr…du bist meiner Stimme gefolgt, ohne zu zögern. Warum hast du ihr vertraut? Warum hast du mich hier in der Welt des Klangs gesucht?«
»Weil alle Bilder trügen«, sagte Nhordukael. »Die Erscheinungen der Sphäre haben mich oft genug getäuscht; sie sind ein Werk Durta Slargins.«
»Ja, der Weltenwanderer beherrscht die Kunst, die Menschen mit Trugbildern zu täuschen - und mit den Legenden, die er vor langer Zeit erschaffen hat. Sie sind seine Werkzeuge; durch sie kann er in die Köpfe der Menschen dringen und ihnen Träume und Eingebungen bescheren. Der Glaube an den Weltenwanderer und seine Macht ist tief in dieser Welt verwurzelt.«
»Von Kindesbeinen an wurde ich zum Glauben an den Gott Tathril erzogen«, fügte Nhordukael hinzu, »bis ich erkannte, daß dieser Gott nur eine Erfindung Durta Slargins war, um mich zum Gehorsam zu zwingen - und nicht allein mich, sondern auch die anderen Zauberer. Nur deshalb schuf er die Kirche und die Logen, um nach seinem Tod über die Quellen zu gebieten.«
»Doch wie du selbst spürst, ist seine Macht über die Sphäre begrenzt. Er konnte dich nicht daran hindern, das Auge der Glut zu durchschreiten und in die Sphäre einzudringen.« Die Stimme hatte einen fragenden Klang angenommen. »Nun suchst du nach Antworten. Du willst erfahren, warum dir dieses Schicksal aufgebürdet wurde.«
Einen Moment lang zögerte Nhordukael. Konnte er der Stimme trauen? War es nicht zu gefährlich, sich in diesem unbekannten Raum auf den Rat einer fremden Stimme zu verlassen? »Durta Slargin benötigt meinen Körper - das verriet er mir selbst. Nur deshalb verlieh er mir die Gewalt über die Quelle des Brennenden Bergs und beschützte mich, als ich am Tag der Ernte mit glühender Bronze übergössen wurde. Doch warum? Kennst du die Wahrheit?«
Vor ihm zerriß die Finsternis, und ein Lichtstrahl fiel aus der Ferne auf Nhordukaels Gesicht. Er wurde sich plötzlich seines Körpers gewahr, spürte wieder seine Arme und Beine; spürte, daß er schwebte in einer Welt jenseits der Welt. Erstaunt blinzelte er in das mondhelle Licht.
»Es ist eine lange Geschichte«, sagte die Stimme. »Sie reicht zurück in eine Zeit, als die Menschen noch nicht über die Sphäre herrschten. Sie handelt von einem uralten Zwist, von der Geburt der Magie - und von dem Weltenwanderer, den du unter dem Namen Durta Slargin kennst. Er ist sehr viel älter, als du glaubst. Er lebte schon vor fast dreitausend Jahren auf der Welt; doch damals nannte man ihn Sternengänger, und er war einer der tapfersten Menschen seiner Zeit.«
Nhordukael wandte seine Augen nicht von dem Licht ab. »Von jener Zeit berichten nur uralte Legenden - und hast du nicht selbst gesagt, ich dürfe den Legenden nicht trauen?«
»Diese Legende
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