Flammenbucht
herum hatte sich gedreht, der blaue Himmel, die Wiese, die Zweige, und wimmernd hatte er sich an dem Baumstamm festgeklammert, voller Furcht, die Kraft seiner Arme könnte schwinden und ihm den Absturz in den sicheren Tod bescheren. Sein Vater hatte ihn damals aus der mißlichen Lage befreit; die anschließende Tracht Prügel hatte er ebensowenig vergessen wie den Spott der Dorfjugend, die ihn noch wochenlang gehänselt hatte. Diese Kindheitserinnerung kam Cornbrunn in den Sinn, als er vom Boot aus zur Felswand von Fareghi aufblickte. Wie eine riesige Mauer erhob sie sich aus dem Wasser; Cornbrunn schätzte ihre Höhe auf etwa achtzig Schritt - zerklüftetes Gestein, in dessen Spalten die Möwen nisteten, das untere Drittel überzogen mit einer Schicht aus Algen, Muscheln und Seetang.
»Ihr könnt nicht im Ernst von mir verlangen, diesen Felsen zu erklimmen, Großmerkant!« Cornbrunns Stimme klang belegt. »Ich bin zu jung, um in den Gewässern Fareghis als Fischfutter zu enden.«
»Hört sie euch an, die feige Sprotte!« erklang hinter ihm Mäulchens Stimme. »Wenn sogar Ungeld seinen fetten Hintern diesen Felsen emporschieben kann, wirst du es ja wohl auch schaffen!«
Ungeld, der Netzknüpfer, warf Mäulchen einen vernichtenden Blick zu. »Bist wohl neidisch, Mäulchen, weil dein Arsch so flach wie eine Flunder ist. Und nicht nur dein Arsch, wohlgemerkt! Das kommt davon, wenn man nicht gelegentlich mal feste Nahrung zu sich nimmt, du Schnapsdrossel.«
»Haltet den Rand, alle beide!« schalt der Wirt Stolling, der gemeinsam mit Parzer das Boot zur Felswand ruderte. »Dies hier muß die Stelle sein, die in den alten Schriften beschrieben wurde.« Er deutete auf drei Klippen, die vor ihnen aus dem schäumenden Wasser aufragten. »Die Hüter der Stufen! Sie zeigen an, wo sich der geheime Aufstieg zum Leuchtturm befindet. So steht es in den Aufzeichnungen unserer Vorfahren, die mein Vater übersetzt hat.«
»Ach ne, übersetzt von deinem Vater«, prustete Parzer. »Wußte gar nicht, daß der alte Stolling überhaupt lesen konnte.«
»Scherben auflesen vielleicht«, kicherte Ungeld. »Jähzornig war er ja, wenn man ihn mal um die Zeche prellte. Da flogen die Tonschälchen durch den Schankraum, daß es nur so eine Freude war.«
Stolling ließ sich nicht beirren. Er trug den goldenen Turmbinder am Handgelenk; eifrig tastete er die Felswand ab, bohrte die Finger in die Schicht aus Schlick und Seetang. Schließlich legte er einen schmalen Zinken frei, der aus dem Felsen hervorragte. Als Stolling ihn mit dem Ärmel seines Seidenhemdes sauberwischte, blitzte er golden auf.
Aelarian Trurac trat an seine Seite. »Auf diesem Weg also flohen Varyns Erben, als die Gyraner vor eintausend Jahren die Insel besetzten. Bist du sicher, daß die Stufen dieser ›Treppe‹ nach so langer Zeit noch unversehrt sind, Stolling?«
Der Gastwirt tippte gegen seinen Turmbinder. »Die Magie des Leuchtturms schützt diesen geheimen Weg und verhüllt ihn zugleich. So steht es in den Aufzeichnungen!«
Aelarian Trurac wandte sich den beiden Personen zu, die im hinteren Teil des Bootes saßen: Rumos Rokariac und seine Leibwächterin Ashnada. Beide waren während der Überfahrt nach Fareghi sehr wortkarg gewesen; die Ereignisse der letzten Tage saßen ihnen noch immer in den Knochen.
»Diese Stufen führen uns geradewegs zum Fuß des Leuchtturms, Rumos. Wenn wir Glück haben, läßt Eidrom den Eingang nicht allzu gut bewachen; sein Heer lagert noch immer an der Südküste Fareghis, sofern Parzers Nachforschungen stimmen.«
»Zweifelst du etwa daran, Rotbauch?« beschwerte sich Parzer. »Ich hab gestern nicht zum Spaß mit meinem Boot ein paar Ehrenrunden um Fareghi gedreht! Jeden Winkel der Insel habe ich ausgespäht, und ich sag dir: die faulen Kathyger tummeln sich allesamt in Nejip, dem kleinen Nest an der Bucht von Varynna. Dort glüht übrigens immer noch jenes Feuer, das wir vom Meer aus beobachtet haben. In der Bucht brodelt es, als hätte sich im Meeresgrund ein Vulkan auf getan. Bestimmt waren es die Echsen, die diese Glut nach Fareghi brachten.« Aelarian nickte nachdenklich. »Zwei Tage sind verstrichen, seit Perjan Lomis samt seiner Flotte unterging. Seitdem werden rund um Morthyl die Schiffe der Goldei gesichtet; der Turm hat sie herbeigerufen. Inzwischen dürfte Eidrom sich wieder in Sicherheit wiegen; er wird nicht damit rechnen, daß jemand es wagt, von der Nordseite her die Felswand zu erklimmen und in den Leuchtturm
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