Flammendes Eis
Mein Begleiter rief: »Herrje, sie sieht ja aus wie eine Meerjungfrau!‹, und meine Mannschaft ließ beim Anblick unserer liebreizenden Fracht alle Vorbehalte fahren und kümmerte sich um das Mädchen. Als die Kleine wieder zu Bewusstsein kam, entpuppte sie sich als überaus redegewandt und konnte mit einem meiner Männer sogar mühelos auf Französisch parlieren. Sie sagte, sie habe sich mit ihrer Familie auf einem Schiff namens
Odessa Star
befunden, doch obwohl ihr dieser Name noch gewärtig war, konnte sie sich an ihren eigenen nicht mehr mit Bestimmtheit erinnern, wenngleich sie ›Maria‹ für wahrscheinlich hielt.
Hinsichtlich ihres bisherigen Lebens oder der näheren Umstände des Untergangs lag bei ihr eine umfassende Amnesie vor. Die zähen alten Seebären an Bord meines Schiffs überhäuften sie mit fürsorglichen Aufmerksamkeiten und nannten sie ›die kleine Meerjungfrau‹.«
Der Kapitän meldete den Zwischenfall im nächsten Hafen, erzählte den Behörden seltsamerweise jedoch nichts von dem Mädchen. Im Epilog des Buchs fand sich die Erklärung dafür.
»Manche meiner werten Leser dürften sich fragen, was wohl aus der kleinen Meerjungfrau geworden ist. Mittlerweile sind viele Jahre vergangen, und so erlaube ich mir, das Geheimnis
z
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lüften: Als ich dieses Mädchen halb tot ans dem Wasser zog, waren meine wunderbare junge Frau und ich seit fünf Jahren verheiratet, ohne dass es uns je gelungen wäre, ein Kind
zu bekommen. Nach meiner Rückkehr in den Kaukasus haben wir Maria als unser eigen Fleisch und Blut adoptiert. Bis zum Tod meiner Frau war sie uns beiden eine große Freude und wuchs selbst zu einer wunderschönen jungen Dame heran, die heiratete und eigene Kinder bekam. Nun, da ich mich in den Ruhestand zurückgezogen habe, halte ich den richtigen Augenblick für gekommen, der Welt zu enthüllen, welch kostbares Geschenk das Schwarze Meer mir gab, nachdem es mich viele Jahre lang zu großen Entbehrungen gezwungen hatte.«
Perlmutter ließ das Buch sinken und las die Rezension der
Times
. Der Verfasser beanstandete den Stil des Werks, doch die Geschichte von der Meerjungfrau hatte ihn tief berührt, und er schilderte sie relativ ausführlich. Vermutlich hatte ein aufmerksamer Lloyd’s-Mitarbeiter den Verweis auf die
Odessa Star
bemerkt und die Rezension daraufhin der Akte des entsprechenden Vorgangs hinzugefügt.
Über den faszinierenden Erzählungen des Kapitäns hatte Perlmutter vollkommen seinen Snack vergessen. Er holte das Versäumte nach und schmierte sich Trüffelpastete im Wert von zwanzig Dollar auf einen einzigen Cracker. Dann blickte er versonnen aus dem Fenster und genoss den köstlichen erdigen Geschmack. Die Gegenwart hatte ihn wieder, und er erinnerte sich an Bosworths Begleitschreiben über Lord Dodson. Er las den Brief ein weiteres Mal und fragte sich, weshalb die Familie einen Teil der Dokumente wieder zurückgezogen hatte.
Ungeachtet seiner plumpen Statur war Perlmutter ein sehr tatkräftiger Mann. Er nahm den Hörer ab und setzte sich mit einigen Londoner Bekannten in Verbindung. Innerhalb weniger Minuten erfuhr er, dass Dodsons Enkel, ebenfalls ein Lord, noch am Leben war und in den Cotswold Hills wohnte. Man nannte ihm eine Telefonnummer, obgleich sein Gewährsmann ihn unter Androhung einer Mahlzeit bei Burger King schwören ließ, die Quelle nicht preiszugeben. Perlmutter rief dort an und stellte sich dem Mann am Telefon vor.
»Ich bin Lord Dodson. Sie sagen, Sie seien ein Marinehistoriker?« Er klang nachdenklich, aber nicht unfreundlich, und sein distinguierter Akzent wies ihn als Angehörigen der britischen Oberschicht aus.
»Genau. Ich habe Nachforschungen über ein Schiff namens
Odessa Star
angestellt und bin dabei auf einen Querverweis auf die Memoiren Ihres Großvaters gestoßen. Die Bibliothek hat das Manuskript auf Ersuche n der Familie offenbar zurückgegeben.
Ich möchte mich erkundigen, wann die Unterlagen wieder in der Guildhall Library zugänglich sein werden.«
Am anderen Ende herrschte einen Moment Stille. »Niemals!«, sagte Dodson dann. »Manche der Schilderungen darin sind viel zu persönlicher Natur. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis, Mr. Perlman.« Er klang nervös.
»Ich heiße
Perlmutter
, falls es Ihnen nichts ausmacht, Lord Dodson. Der historische Teil ließe sich doch sicherlich von den persönlichen Anmerkungen trenne n.«
»Tut mir Leid, Mr. Perlmutter«, sagte Dodson und schien sich zu fassen. »Eine derartige Trennung
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