Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
suchen, aber Pia kann sich einfach nicht dazu durchringen.
Sie ist den ganzen Tag mit ihrem Mietwagen in der Gegend herumgefahren, auf den immer gleichen Straßen, an kleinen Ortschaften vorbei, kreuz und quer in Indal und auf den Forstwirtschaftswegen.
Mehrmals ist sie Polizisten begegnet, die sie gebeten haben, nach Hause zu fahren.
Jetzt liegt sie angezogen auf dem Bett und starrt in die Dunkelheit hinein. Seit Dantes Verschwinden hat sie nicht mehr geschlafen. Das Handy klingelt. Sie streckt sich danach, starrt es an und schaltet anschließend den Rufton ab. Es sind ihre Eltern. Sie rufen ständig an. Pia starrt in der fremden Wohnung in die Dunkelheit hinein.
In ihrem Kopf hört sie die ganze Zeit Dante weinen. Er hat Angst und fragt nach seiner Mama, bittet flehend, zu seiner Mama nach Hause gehen zu dürfen.
Sie muss aufstehen.
Pia nimmt ihre Jacke und öffnet die Wohnungstür. Als sie sich erneut in den Mietwagen setzt und losfährt, hat sie Blutgeschmackim Mund. Sie muss Dante finden. Was ist, wenn er neben irgendeiner Straße im Graben sitzt? Vielleicht hat er sich unter einem Karton versteckt. Hat das Mädchen ihn womöglich irgendwo zurückgelassen?
Die Straßen sind dunkel und leer. Fast alle scheinen zu schlafen. Sie versucht, in den schwarzen Dunst jenseits der Scheinwerfer zu schauen. Sie fährt zu der Stelle, an der ihr Wagen gestohlen wurde, und sitzt da, hat die zitternden Hände auf das Lenkrad gelegt, bis sie schließlich wendet und zurückfährt. Sie fährt in die kleine Ortschaft Indal, wo das Auto mit Dante wahrscheinlich verschwunden ist. Langsam passiert sie einen Kindergarten und biegt ziellos in den Solgårdsvägen und fährt an dunklen Einfamilienhäusern vorbei.
Als sie eine Bewegung unter einem runden Trampolin wahrnimmt, tritt sie abrupt auf die Bremse und steigt aus dem Wagen. Sie stolpert durch eine flache Rosenhecke auf das Grundstück und kratzt sich die Beine auf, läuft zu dem Trampolin und sieht, dass sich darunter eine dicke Katze in der Dunkelheit verbirgt.
Sie wendet sich dem Backsteinhaus zu und starrt mit pochendem Herzen die heruntergelassenen Rollläden an.
»Dante!«, ruft sie. »Dante? Ich bin’s, Mama! Wo bist du?«
Ihre Stimme ist heiser und traurig. In dem Haus werden Lampen angemacht. Pia geht weiter, zum nächsten Grundstück, klingelt an der Tür, klopft an und eilt zu einem Schuppen.
»Dante!«, schreit sie, so laut sie kann.
Sie geht an den Häusern im Solgårdsvägen vorbei und ruft nach ihrem Sohn, hämmert mit den Fäusten gegen geschlossene Garagentore, öffnet Türen zu kleinen Spielhäuschen, geht durch verschlungenes Gestrüpp, überquert einen Straßengraben und gelangt erneut mitten auf den Indalsvägen.
Ein Auto bremst mit quietschenden Reifen, und sie weicht einen Schritt zurück und fällt hin. Sie starrt die Streifenpolizistin an, die zu ihr eilt.
»Haben Sie sich wehgetan?«
Pia lässt sich beim Aufstehen helfen und sieht die Beamtin mit der kräftigen Nase und den zwei blonden Zöpfen verwirrt an.
»Haben Sie ihn gefunden?«, fragt Pia.
Ein zweiter Polizist tritt zu ihnen und sagt, dass sie Pia jetzt heimfahren werden.
»Dante hat Angst im Dunkeln«, sagt sie und hört, wie heiser ihre Stimme klingt. »Ich bin seine Mutter, aber ich hatte keine Geduld mit ihm, wenn er zu mir gekommen ist, habe ich ihn immer in sein Bett zurückgeschickt. Er hat in seinem Pyjama vor mir gestanden und gesagt, dass er sich fürchtet, aber ich …«
»Wo haben Sie das Auto abgestellt?«, erkundigt sich die Frau und hält Pia am Oberarm fest.
»Lassen Sie mich los«, schreit Pia und reißt sich los. »Ich muss ihn finden!«
Sie schlägt der Polizistin ins Gesicht und schreit, als sie überwältigt und auf den Asphalt gepresst wird. Sie kämpft, um sich zu befreien, aber die Polizisten verschränken ihre Arme auf dem Rücken und halten sie fest. Pia spürt, dass ihr Kinn hart über den Asphalt schabt, und sie weint hilflos wie ein Kind.
47
JOONA LINNA denkt über das Fehlen von Zeugen nach: Kein Mensch scheint etwas über Vicky Bennet zu wissen, keiner hat etwas gesehen. Er fährt auf einer wunderschönen Straße zwischen wogenden Feldern und glitzernden Seen, bis er ein weißes Steinhaus erreicht. Auf der Veranda steht in einem riesigen Topf ein Zitronenbaum mit kleinen, grüngelben Früchten.
Er klingelt an der Tür, wartet, geht dann aber um das Haus herum.
Unter einem Apfelbaum sitzt Nathan Pollock, er trägt einen großen Gipsverband um
Weitere Kostenlose Bücher