Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
ein Bein.
»Nathan?«
Der schlanke Mann erstarrt und dreht sich zu Joona um. Er beschattet die Augen mit der Hand und lächelt dann überrascht:
»Joona Linna, bist du es wirklich?«
Nathans silbergraue Haare liegen in einem schmalen Pferdeschwanz auf seiner Schulter, er trägt eine schwarze Hose und einen dünnen Strickpullover. Nathan Pollock gehört der Landesmordkommission an, einer aus sechs Mitgliedern bestehenden Expertengruppe, die in ganz Schweden bei der Aufklärung schwieriger Mordfälle hilft.
»Joona, das mit den internen Ermittlungen gegen dich tut mir furchtbar leid, ich hätte dich damals nicht zur Brigade gehen lassen dürfen.«
»Das war meine eigene Entscheidung«, erwidert Joona und setzt sich.
Nathan schüttelt langsam den Kopf:
»Ich habe mich mit Carlos heftig darüber gestritten, dass du so an den Pranger gestellt wirst.«
»Hast du dir dabei das Bein gebrochen?«, fragt Joona.
»Nein, das war ein wütendes Bärenweibchen, das in den Garten gerannt kam«, antwortet Nathan und lächelt dabei so breit, dass sein Goldzahn aufblitzt.
»Vielleicht ist er aber auch nur von der Leiter gefallen, als er Äpfel pflücken wollte«, hört Joona eine helle Stimme hinter sich sagen.
»Matilda«, sagt er.
Er steht auf und umarmt eine Frau mit dichten, rötlich braunen Haaren und einem Gesicht voller Sommersprossen.
»Herr Kommissar«, erwidert sie lächelnd und setzt sich. »Ich hoffe, du hast für meinen Liebsten ein bisschen Arbeit mitgebracht, sonst fängt er noch mit Sudoku an.«
»Das habe ich vielleicht«, sagt Joona bedächtig.
»Tatsächlich?«, sagt Nathan lächelnd und kratzt sich am Gips.
»Ich habe mir den Tatort angesehen, und ich habe mir die Leichen angesehen, aber ich habe keinen Zugang zu Berichten oder Laborergebnissen …«
»Wegen der internen Ermittlungen?«
»Es ist nicht mein Fall, aber ich würde trotzdem gerne hören, was du darüber denkst.«
»Da freut sich Nathan«, sagt Matilda lächelnd und tätschelt die Wange ihres Mannes.
»Schön, dass du an mich armen Schlucker gedacht hast«, sagt Pollock.
»Ich kenne niemand Kompetenteren«, erwidert Joona.
Er setzt sich wieder und beginnt, in aller Ruhe zu berichten, was er über den Fall weiß. Nach einer Weile steht Matilda auf und geht ins Haus. Pollock hört aufmerksam zu, stellt gelegentlich weiterführende Fragen zu gewissen Details, nickt und bittet Joona fortzufahren.
Eine grau getigerte Katze kommt zu ihnen und streicht um Nathans Beine. In den Bäumen singen Vögel, während Joona die Zimmer und die Positionen der Körper, die Blutspritzer, Blutlachen, Fußspuren, das verschmierte Blut und die Krusten beschreibt. Nathan schließt die Augen und folgt konzentriert Joonas Beobachtungen zu dem Hammer unter dem Kissen, der blutigen Decke und dem offenen Fenster.
»Dann wollen wir mal sehen«, flüstert Pollock. »Wir haben es mit äußerst heftiger Gewalt zu tun, aber es gibt keine Bisse, keine Ansätze zu einer Zerstückelung …«
Joona sagt nichts, lässt Pollock alleine seine Gedanken entwickeln.
Nathan Pollock hat viele Täterprofile erstellt – und er hat sich noch nie geirrt.
Das Erstellen von Täterprofilen ist eine Methode, sich dem Schuldigen dadurch zu nähern, dass man das Verbrechen als eine Metapher für die psychische Disposition des Täters deutet. Der logische Grundgedanke lautet, dass sich das innere Leben eines Menschen in einem gewissen Maße im äußeren Leben widerspiegelt. Wenn ein Verbrechen chaotisch ist, dann ist auch die Psyche des Schuldigen chaotisch, und dieses Chaos kann anderen nur verborgen bleiben, wenn der Täter ein Einzelgänger ist.
Joona sieht, dass Nathan Pollocks Lippen sich beim Denken bewegen. Ab und zu flüstert er etwas in sich hinein oder zieht unwillkürlich an seinem Pferdeschwanz.
»Ich glaube, ich kann die Leichen jetzt vor mir sehen … und das Muster der Blutspritzer«, sagt er. »Du weißt das natürlich alles … dass die meisten Morde in einem Moment blinder Wut geschehen. Danach lässt einen das viele Blut und das Chaos in Panik geraten. Und dann sucht man hektisch den Winkelschleifer und Müllsäcke heraus … Oder man rutscht mit einer Scheuerbürste im Blut herum und hinterlässt überall Spuren.«
»Hier ist das jedoch nicht der Fall.«
»Dieser Mörder hat im Grunde überhaupt nicht versucht, etwas zu verbergen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, stimmt Joona ihm zu.
»Die Gewalt wird mit großer Wucht und methodisch
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