Flammenopfer
schmerzloser, unentdeckter Krebs.
In vielen ruhigen Nächten bei der Telefonseelsorge hatte Sternenberg die Bücher und Lexika durchgeblättert, die im Regal standen. Irgendwann merkte er, dass es nicht gut war, im Nachtdienst zwischen den Anrufen zu lesen, wie Bauchfelle extrahiert oder Depressionen, Verfolgungsängste und sexuelle Spielarten diagnostiziert werden. Es war einfach nicht gut.
Er merkte, dass seine Gedanken abschweiften, und blätterte, den Kugelschreiber in der Hand, Petras Papiere weiter durch, machte Anmerkungen, zeichnete Ausrufezeichen und Fragezeichen und entschied sich, die gelben Klebezettel von Dodorovic herauszunehmen, weil sie ihn irritierten.
Es klingelte auf Leitung 1. Er meldete sich, aber der Anrufer legte auf. Er machte einen Strich in der Statistik und lehnte sich wieder zurück.
Versteckt zwischen den vielen Internet-Ausdrucken war eine Liste, die Petra selbst erstellt hatte. Sie enthielt 63 Fälle von Brandstiftung in Berlin, sortiert nach Datum und mit allen möglichen Angaben: Ort, Tatzeit, menschlicher und materieller Schaden, Täterstatus, besondere Eigenarten …
Warum hatte Petra diese Liste nicht ganz nach vorn genommen, zu ihrer Zusammenfassung? Warum hatte Dodorovic nicht deutlicher auf sie hingewiesen? Oder hatte er das? Die Klebezettel waren jetzt alle weg, er konnte es nicht mehr nachprüfen. Er nahm die Liste heraus und heftete sie als erste Seite ein. Dann legte er sie vor sich auf den Tisch.
Es waren 63 Fälle allein aus dem Prenzlauer Berg und dessen Umgebung. Allesamt Dachgeschossbrände.
Sternenberg suchte in der Rubrik der Opfer nach den Berufsbezeichnungen. Er zählte fünf Anwälte, Rabein und Jarczynski noch nicht gerechnet. Kann man das schon als Serie bezeichnen? Von den fünf Personen waren drei lediglich verletzt worden. Einer von ihnen wurde der Brandstiftung verdächtigt.
Soweit er sehen konnte, war von einer 50%igen Aufklärungsquote noch keine Rede. In wenigen Fällen hatte Petra aufgeklärt dahintergeschrieben. In Fußnoten notierte sie, dass fast immer Fahrlässigkeit im Spiel war, und dass die Verursacher sich selbst angezeigt hatten.
Kai Sternenberg strich mit der Handfläche über das Papier. Die Liste war gut. Aber sie bot keine schnelle Antwort. Immerhin waren fünf Anwälte betroffen, mit den beiden neuesten Fällen sogar sieben. Und das allein in einem Bezirk. Sie brauchten die Vergleichszahlen zu anderen Bezirken.
Petras Liste enthielt einen einzigen gesicherten Mordanschlag. Ein Beamter der Stadtverwaltung hatte seine Frau erschlagen und anschließend die gemeinsame Wohnung in Brand gesetzt, um die Spuren zu verwischen. Als er mit Rauchvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und man ihn mit der Frage konfrontierte, weshalb seine Frau eine schwere Schädelfraktur hatte, gestand er sofort. Sternenberg erinnerte sich, von dem Fall im Frühjahr in den Zeitungen gelesen zu haben. Der Clou war, dass die Feuerwehr die Ehefrau unter einem umgestürzten Regal gefunden hatte und die Kollegen wahrscheinlich nie auf den Gedanken gekommen wären, dass sie vor dem Brand erschlagen worden war.
In einem anderen, jüngeren Fall hatte die Polizei ebenfalls schnell einen Tatverdächtigen präsentiert. Der Architekt Peter van Tannen kam auf diese Weise samt Foto und Lebenslauf in mehrere Berliner Zeitungen. Petra hatte Kopien davon beigelegt. Einziger Anhaltspunkt war die Tatsache, dass van Tannen kurze Zeit vor dem Brand, bei dem niemand körperlich Schaden genommen hatte, in der Nähe des Hauses geparkt hatte, was er zwar nicht leugnete, wofür er aber angeblich keine stichhaltige Erklärung vorbringen konnte. Tja, warum parkt jemand ein paar Blocks von seiner Wohnung entfernt? Wahrscheinlich, weil er keinen nahen Parkplatz gefunden hat. Soll vorkommen. Der Architekt wurde sofort aus der Untersuchungshaft entlassen, die Nachrichten darüber in den Zeitungen waren vergleichsweise mikroskopisch.
Das Telefon klingelte.
» Telefonseelsorge, guten Tag.«
Der Seufzer eines Mannes. Unentschlossenes Herumrascheln. Schweigen.
Sternenberg hatte den Hörer am linken Ohr und notierte die Tageszeit und ein großes M.
Wieder seufzte der andere. Und schwieg. Im Hintergrund waren leise Autogeräusche zu hören.
Sternenberg richtete sich auf ein längeres Schweigen ein und lehnte sich im Sessel zurück, zog dabei sein Notizheft auf die Kante des Tisches, sodass es halb auf der Schreibunterlage und halb auf seinem Schoß ruhte. Er sah durch das Fenster
Weitere Kostenlose Bücher