Flammenpferd
stattdessen waagerechte Balken eingesetzt. Ein pummeliger Brauner trat mit dem Hinterbein gegen das Holz und schnappte nach seinem Nachbarn, einem Fuchspony. Ohne Hast zog es sich einen Schritt zurück. Die Boxen waren so geräumig, dass sich die Pferde bei einem Streit ausweichen konnten.
„Kannst du es wieder nicht abwarten?“, schimpfte Hella und schob dem futterneidischen Wallach den ersten Stoß Heu in die Box, damit er Ruhe gab. Die anderen Pferde warteten geduldiger. Mit geübten Griffen verteilte sie die Heuportionen und vergewisserte sich, dass alle Tiere gesund und munter aussahen, bevor sie den Stall verließ.
Draußen wandte sie sich nach rechts und ging an dem niedrigen Klinkerbau vorbei, der sich dem Pensionsstall anschloss. Das Gebäude wurde immer noch der „Kälberstall“ genannt, obwohl dort schon lange kein Jungvieh mehr gehalten wurde. Die Räume waren bis auf den letzten Strohhalm ausgeräumt und warteten darauf, zu Büro- und Behandlungsräumen der Reha-Klinik ausgebaut zu werden. Der Weg führte Hella zur Reithalle hinüber, vor der sie rechts abbog und in den hinteren Hofbereich gelangte. Hier stand der Paddockstall, ein hölzerner Neubau, den Nelli ebenso wie die Reithalle kurz vor ihrem Tod hatte errichten lassen. Damals war es Hella wie die Erfüllung aller Wünsche erschienen, neben der nagelneuen Reithalle auch diesen luftigen Stall vorzufinden, der mit zehn Boxen und vorgelagerten Paddocks wie geschaffen für die Reha-Klinik war, die ihr seit einem Amerikaurlaub im Kopf herum spukte. Deswegen hatte sie sich einen heftigen Krach mit Nelli eingehandelt, die nicht die geringste Lust verspürte, den Hof mit der so unerwartet aufgetauchten Schwester zu teilen. Nur drei Plätze waren besetzt. Die übrigen Boxen warteten auf ihre Gäste auf Zeit: die Sportpferde und Reitpferde, die sich hier erholen und ihre Verletzungen und Krankheiten ausheilen sollten. Hella hing in ihrem Zeitplan zurück, worüber sie jetzt nicht nachdenken wollte. Ein schneidender Wind blies ihr entgegen. Im Paddockstall gab es keine geschlossenen Wände. Hier herrschten die Außentemperaturen vor, was dem elementaren Bedürfnis der Pferde nach frischer Luft entsprach, es deren Betreuerin an einem Morgen wie diesem aber recht ungemütlich machte. Sie schob den Kragen höher und stülpte die Handschuhe über die kalten Finger. Melody brummelte leise, während Jettes kräftiger Fuchswallach Jackson sein Heu ohne Kommentar entgegen nahm. Die arabische Schimmelstute in der Nachbarbox begrüßte Hella mit angelegten Ohren und missgelauntem Blick.
„Du bist eine garstige Hexe, Zamira“, schimpfte Hella gutmütig.
Der nächste Arbeitsgang führte sie hinter die Scheune zu den anderthalbjährigen Hengstfohlen – drei ebenso liebenswerte wie quirlige Halbstarke, die ihr mit wenigen Zeilen von Thies vermacht worden waren. Mitten im Fellwechsel erschienen sie zottig wie Wildtiere, wuchsen schief in alle Richtungen und verbrachten die Tagen mit Schlafen, Fressen und Balgereien auf der großzügigen Winterweide.
Auf dem Rückweg ging sie noch einmal zu Melody, um sich deren rechtes Hinterbein genau anzusehen. Melody war am Tag zuvor mit einem Pferd in Streit geraten und hatte sich einen Huftritt eingefangen. Zwar gab es keine offene Wunde, aber obwohl Hella das Bein am Abend lange gekühlt hatte, war das Sprunggelenk leicht geschwollen. Das ist ein Fall für den Tierarzt, entschied sie und musste sich damit abfinden, dass nun der Tag gekommen war, an dem sie Doktor Sten Johansen rufen musste. Ein Gedanke, der ihr widerstrebte. Sie hatte nichts gegen den Mann, kannte ihn gar nicht persönlich. Er besaß einen hervorragenden Ruf, und sie hätte sogar in Erwägung ziehen können, ihn für die Reha-Klink zu gewinnen. Wenn er nicht vor kurzem Philipps Praxis übernommen hätte. Die Räume der Kleintierpraxis lagen in der Hamelner Altstadt. Vermutlich würde er – wie Philipp und zuvor dessen Vater – vormittags Katzen, Hunde und Meerschweinchen behandeln und tagsüber über Land fahren und sich um kranke und verletzte Pferde kümmern. Und sie wollte nicht an Philipp erinnert werden. Doch nun ging es um Melodys Wohl, und ihre eigenen Abneigungen mussten zurückstehen.
Mit dem festen Entschluss, Johansen gleich nach dem Frühstück anzurufen, kehrte sie in den Pensionsstall zurück. Mit geübtem Schwung schüttete sie mal mehr, mal weniger Hafer oder eine Futtermischung in die Tröge. Der erste Hunger war durch das Heu
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