Flammenpferd
gestillt, und so wurde das Futter ohne Neid und Aufregung entgegen genommen. Es war Marens Aufgabe, die Pferde später in die Winterausläufe zu führen, in denen die Tieren einen geruhsamen Tag mit gemeinsamem Spielen und Dösen verbringen durften, und danach die Boxen auszumisten und für die folgende Nacht vorzubereiten.
Hella ging wieder hinaus auf den Hof. Die Arbeit hatte alle Kälte aus ihrem Körper vertrieben und die Müdigkeit mit sich genommen. Sie fühlte sich gestärkt und ausgeruht. Die Morgendämmerung war herauf gezogen und tauchte den Hof in ein dunstiges Licht. Die Sicht reichte über die Winterausläufe und die vom Raureif besetzte Hauswiese hinweg bis ins Hameltal. Im grauen Himmel zog ein Entenpaar mit lang ausgestreckten Hälsen der Reihe hoher Pappeln entgegen, die auf dem gegenüber liegenden Ufer den weiten Bogen des Flussbetts nachzeichneten. Selbst der friedliche Ausblick weckte beklemmende Erinnerungen. Drei Pferdeleben hatten die Verwicklungen des vergangenen Sommers gekostet. Auch der junge Wallach Memory, den Hella ebenso wie Melody in ihre persönliche Obhut genommen hatte, war auf der Weide getötet worden.
Auf der oberen Treppenstufe hockte Blitz und schaute mit trüben Augen melancholisch ins Leere. Als sie in sein Halsband griff, zuckte er zusammen, folgte ihr dann in die Küche und ließ sich schnaufend vor dem Kaminofen nieder. Hella hatte sich der Stiefel und warmen Jacke entledigt und setzte die Kaffeemaschine in Gang, ein Chrom glänzendes Prachtstück aus der Hinterlassenschaft ihrer Schwester. Gegen zehn würde sie gemeinsam mit Maren frühstücken, aber auf einen Kaffee wollte sie solange nicht warten. Mit dem dampfenden Becher in der einen und einigen Keksen in der anderen Hand betrat sie in ihr Arbeitszimmer neben der Küche, das der Familie in früheren Zeiten als Wohnzimmer gedient hatte. Inzwischen wurde es von einem Durcheinander aus Aktenordnern, riesigen Plänen und großen Stapeln von Prospekten und gelesener sowie nicht bearbeiteter Post beherrscht: ein Anblick, der eine lähmende Mutlosigkeit auslöste. Wenn Simon das wüsste, dachte sie verzagt, er würde mich nicht wieder erkennen. Allerdings war so gut wie auszuschließen, dass er das Chaos je zu sehen bekäme. Ihr Ex-Freund brütete lieber in Wiesbaden über seinen geschätzten Akten. Bei der letzten Stippvisite in ihrem Wiesbadener Büro hatte Hella sich abends auf den Weg nach Hameln begeben, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich mit Simon zu verabreden. Für die Freunde und Bekannten in Wiesbaden blieb keine Zeit mehr. Einzig die geschäftlichen Beziehungen zu ihren wichtigsten Kunden hielt sie aufrecht und führte deshalb das kleine Büro in der Rheinstraße weiter. Ihre Sekretärin Petra kam an drei Vormittagen in der Woche und betreute die Kunden. Solange Petra dabei blieb, würde Hella das Büro behalten und weiterhin bei Bedarf nach Wiesbaden fahren. Und dann gab es noch Werner Tischbein, Doktor Werner Tischbein, Hellas ehemaliger Chef und väterlicher Freund, der seine Zeit inzwischen lieber in Australien als in Frankfurt verlebte, aber nach wie vor an lohnenden Geschäften interessiert war und sich als stiller Teilhaber an der Reha-Klinik beteiligte. Ohne sein Vertrauen und ohne sein Geld hätte Hella sich auf das Unternehmen niemals eingelassen.
Sie stellte den Becher neben der Tastatur ab und schaltete den PC ein. Während der Rechner hochfuhr und sie die E-Mails abrief, ließ sie sich von der Auskunft die Telefonnummer von Dr. Johansen geben und vereinbarte mit ihm einen Termin für den späten Nachmittag. Der Tierarzt klang sympathisch und sagte sofort zu, woraus sie schloss, dass der Kreis seiner Patienten bisher überschaubar war. In den folgenden anderthalb Stunden erledigte sie die wichtigste Büroarbeit und stellte bei der Durchsicht ihres Kalenders fest, dass sie gegen Mittag einen Termin beim Friseur hatte. Sie besaß eine ausgesprochene Abneigung gegen Friseurbesuche. Eigentlich fühlte sie sich danach hübscher, doch zuvor musste sie es ertragen, reglos im Sessel zu sitzen und sich von fremden Fingern am Kopf berühren zu lassen. Wie jedes Mal überlegte sie, ob sich nicht eine wichtige Aufgabe vorschieben ließ, besann sich aber eines Besseren und beschloss, bei der Gelegenheit einige Besorgungen in der Altstadt zu erledigen.
Pünktlich kam Maren ins Haus, und sie setzten sich zum Frühstück auf die Eckbank in der Küche. Die rotgrün karierten Polster waren zerschlissen und
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