Flammenpferd
stammten wie die übrige Einrichtung von Hellas Mutter. Nelli hatte nichts daran verändert, und Hella musste sich eingestehen, dass sie auf dem besten Wege war, die Nachlässigkeiten ihrer Schwester zu übernehmen. Jede Woche schien es Dringenderes zu geben als die Renovierung der Küche. Außerdem wollte Hella ihr Geld vorerst lieber in die Klinik stecken.
Maren griff nach der Kaffeekanne. Ihr mädchenhaftes und von krausen braunen Haaren umrundetes Gesicht täuschte leicht darüber hinweg, dass sie weit über dreißig war. Nelli hatte sie schon vor Jahren eingestellt, und das war eine gute Entscheidung gewesen. Mit ihren kleinen starken Händen und der gedrungenen stämmigen Figur konnte Maren kräftig zupacken und erledigte jede Aufgabe gewissenhaft.
„Melodys Sprunggelenk ist geschwollen“, sagte sie und füllte den Becher randvoll mit Kaffee auf. „Ich habe sie trotzdem raus gestellt. Ist das in Ordnung?“
Hella reichte ihr die Milchtüte. „Ich denke schon. Heute Nachmittag kommt Dr. Johansen und schaut sie sich an.“
Maren warf ihr einen fragenden Blick zu. „Ist das nicht Philipps Nachfolger?“
Hella nickte. „Er soll gut sein.“
Maren schüttete schwungvoll die Milch in den Kaffee. „So gut wie Philipps Vater? Der alte Dr. Kamphorst muss ein wahrer Wunderdoktor gewesen sein. Die Leute reden heute noch voller Hochachtung über ihn. Es war schwer für Philipp, diese Lücke zu füllen.“
Damit liegst du richtig, dachte Hella, und hast trotzdem keine Vorstellung davon, welches Unheil Philipps vergebliches Bemühen angerichtet hatte, den hohen Ansprüchen des Vaters gerecht zu werden. Maren kannte nur die Spitze des Eisbergs. Hella hatte ganz tief unter die Oberfläche blicken müssen. Sie war erleichtert, als das Telefon klingelte und ihr eine Bemerkung über Philipp ersparte. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie die Stimme erkannte.
„Ich bin in Hameln und würde dich heute Nachmittag gern besuchen“, flötete Swantje ins Telefon und fügte ganz wichtig hinzu: „Ich habe eine Überraschung für dich!“
Swantjes Überraschung konnte ihr gestohlen bleiben. Aber sie wollte nicht unhöflich sein und lud Swantje für den späten Nachmittag ein. Sobald der Tierarzt kam, hatte sie einen guten Grund, ihrer Urlaubsbekanntschaft Tschüss zu sagen.
Gegen halb zwölf verließ sie das Haus und schaute, bevor sie in Nellis alten Kombi stieg, noch einmal nach Melodys Sprunggelenk, das ihr weder dicker, noch dünner erschien als am Morgen. Der Reinckehof lag am östlichen Stadtrand von Hameln, und über die Bundesstraße 217 war sie in zehn Minuten im Zentrum. Hella umrundete die Altstadt auf dem Kastanienwall und schlug den Weg zum Parkhaus am Krankenhaus ein. Auf der zweiten Etage fand sie einen Parkplatz und betrat wenige Minuten später den Friseursalon. Als sie nach einer knappen Stunde wieder heraus kam, betrachtete sie sich für einen Moment zufrieden im Schaufenster und machte sich auf den Weg in die Osterstraße, von deren östlichem Ende am Grünen Reiter man auf den modernen Glasbau schaute, in dem Jettes Büro lag. Hätte sie sich umgewandt und auf die rechte Straßenseite geschaut, wäre ihr Blick auf einen reich geschmückten Fachwerkbau gefallen, in dessen unterer Etage die Kleintierpraxis eingerichtet war, die früher von Philipp und nun von Johansen geführt würde. Aber diesen Blick wusste sie zu vermeiden. Sie nahm das Handy aus der Jackentasche.
„Hallo, Jette! Wenn du aus deinem Bürofenster siehst, entdeckst du eine frisch frisierte Hella, die Hunger hat. Gehen wir zusammen essen?“
Jettes Büro lag irgendwo links oben hinter der gläsernen Fassade. Hella fragte sich, ob man durch das getönte Glas überhaupt hinaus schauen konnte.
„Leider musst du allein essen.“ Für einige Sekunden war nur ein Rascheln zu hören, dann erklang wieder Jettes Stimme: „Bei uns ist der Teufel los. Bitte grüß Jackson von mir. Ich weiß nicht, ob ich es heute Abend zum Stall schaffe.“
„Er bekommt eine Hand voll Möhren extra“, versprach Hella.
Sie wandte sich um und studierte neugierig die Mittagskarte des Rattenfängerhauses, als sie ein Räuspern im Rücken hörte. „Frau Reincke? Wie schön, Sie zu treffen.“
Die Stimme klang vage vertraut, und sie fühlte sich peinlich berührt, als sie sich umwandte und den Mann erkannte, dem sie einmal ihr Herz ausgeschüttet hatte, obwohl sie selbst den Menschen, die sich einem Wildfremden anvertrauten, mit Unverständnis, wenn nicht
Weitere Kostenlose Bücher