Flammenpferd
einen Traubensaft.
„Auch ein Pferd ist nicht gern allein“, sagte Hella, als die Bedienung gegangen war. „Aber es bevorzugt zur Gesellschaft seine Artgenossen. Wir Menschen sind ein unvollkommener Ersatz.“
„Vielleicht sollte ich mir ein Pferd anschaffen.“
Hella lächelte. „Warum nicht? Aber zwei, drei Stunden Zeit pro Tag sollte Sie auch dafür aufbringen können.“
„So lange muss ein Pferd geritten werden?“, fragte er verwundert.
„Das ist die gesamte Zeit, die ein Pferdebesitzer braucht mit Anfahrt, Putzen und Satteln und der eigentlichen Arbeit mit dem Pferd“, erklärte Hella geduldig. „Falls man einen Tag nicht kommen kann, wird es das Pferd verzeihen.“
Sie fügte hinzu, dass das Pferd auf jeden Fall die Möglichkeit bekommen sollte, sich gemeinsam mit anderen Pferden auf der Weide oder im Paddock zu bewegen. Das Gespräch verstummte, als die Bedienung die Getränke brachte. Eine junge Familie nahm am Nebentisch Platz. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ließen sich vom Vater von der Rattenfängersage erzählen, solange die Mutter sich mit Speisekarte beschäftigte.
„Draußen am Haus befindet sich eine Inschrift“, erklärte die Bedienung zuvorkommend. „Dort steht erklärt, was Anno 1284 in der Stadt geschah.“
Die Geschwister wären am liebsten hinaus gestürmt, und der Vater musste versprechen, ihnen nach dem Essen die Tafel zu zeigen.
Hella wandte sich Julian Mann zu. „Haben Sie Ihre Forschungen vollkommen aufgegeben?“
Julian nippte am Traubensaft. „Die Neugier liegt einem Forscher im Blut. Sie lässt sich nicht abstellen. Aber für die wissenschaftliche Arbeit fehlt mir leider die Zeit. Schmecken die Nudeln?“
Hella spießte ein Brokkoliröschen auf die Gabel. Das Essen war ausgezeichnet. Während beide schweigend aßen, wurden ihre Erinnerungen an jenen Tag gegenwärtig, an dem Thies’ altersschwache Stute Nanette eingeschläfert werden sollte und Philipp sich so seltsam benommen hatte. Im Nachhinein erschien es ihr, als hätte Philipp nicht das Pferd, sondern sie selbst mit der Todesspritze treffen wollen. Kurz darauf versuchte er tatsächlich, sie zu töten. Und Julian, der Philipp dort auf der Weide zum ersten Mal begegnet war, hatte sie damals vor Philipps emotionaler Anspannung gewarnt. Bei diesem Zusammentreffen blieb das Gespräch unverfänglich. Julian Mann erzählte sehr anschaulich von Madagaskar, und Hella hörte ihm gern zu.
„Noch einen Kaffee oder Espresso?“, fragte er schließlich.
„Nein, vielen Dank, ich muss gehen. Ich habe mir viel zu viel Zeit gelassen.“
Sie winkte die junge Frau heran und bat um die Rechnung.
„Schon vergessen?“, fragte Julian. „Ich habe Sie eingeladen.“
„So hatte ich das nicht aufgefasst“, erwiderte Hella.
Julian lächelte. „Wenn Sie ein Problem mit einer Einladung haben, revanchieren Sie sich mit einer Gegenleistung. Vielleicht zeigen Sie mir Ihre Reitanlage und erzählen mir etwas mehr über Pferde?“
Sie zögerte.
„Bitte. Es interessiert mich ehrlich.“
„Also gut“, sagte sie zum Abschied. „Kommen Sie vorbei, wann Sie möchten. Ich bin die meiste Zeit auf dem Hof zu finden.“
Er blieb sitzen, um einen Espresso zu trinken. Als sie auf die Osterstraße hinaus trat und über den Pferdemarkt zum Parkhaus ging, war die Frühlingssonne von graublauen Wolken verdeckt. Zarte Schneeflocken, federleicht wie Daunen, benetzten ihre Wangen.
13
Die Begegnung mit Julian Mann hatte ihren Zeitplan durcheinander gebracht, und so musste sie am Nachmittag ihre Aufgaben zügig erledigen. Sie war in der Reithalle damit beschäftigt, mit dem Schlepper den Sandboden abzuziehen, als sie jemanden am Eingang bemerkte. Ein blonder Kopf schaute über die Bandentür; ein vertrautes Gesicht mit hellrot geschminkten Lippen und perfektem Make-up. Eine Hand begann eifrig zu winken.
„Hella! Hier steckst du!“
Die Bodenpflege wurde meistens von Maren übernommen, die dabei eindeutig schneller war. Hella fehlte die Übung, doch von Swantje wollte sie sich nicht hetzen lassen. In aller Ruhe zog sie weiter ihre Schleifen. Als sie endlich fertig war und den Schlepper draußen auf dem Hof abgestellt hatte, lief Swantje ihr ungeduldig entgegen. „Ich muss dir etwas sagen, Hella!“
„Später!“, sagte Hella, die in diesem Augenblick einen dunklen Kombi entdeckt hatte, der in den Hof fuhr und vor dem Pensionsstall anhielt. Ein Mann, der groß gewachsen war und trotz der Wachsjacke hager wirkte, stieg
Weitere Kostenlose Bücher