Flammenzorn
konnten.
Sie überflog den Bericht. Wie es aussah, war Drake Ferrer von einer Benefizveranstaltung des Amerikanischen Komitees zur Wahrung des historischen Kulturerbes gekommen und auf dem Weg zu seinem Wagen überfallen worden. Dem Bericht des zuständigen Beamten zufolge hatte Ferrer gesagt, drei junge Männer hätten sich ihm in den Weg gestellt. Er gab ihnen seine Brieftasche und die Autoschlüssel, aber die Jungs hatten sich nicht besänftigen lassen. Sie schlugen Ferrer bewusstlos, stahlen seinen Wagen und hoben so viel von seinem Konto ab, wie es der Geldautomat zuließ. Der ohnmächtige Ferrer wurde einige Stunden später neben einem Abfallbehälter von einem Müllmann entdeckt, der über Funk Hilfe herbeirief.
Anya rief die nächste Seite auf und lehnte sich gegen den Schreibtisch, die Fingerspitzen an die Lippen gelegt. Dem Bericht war ein Bild von Ferrer beigefügt, das ihn nach dem Überfall zeigte. Beide Augen waren zugeschwollen, das Gesicht war übersät mit schwarzen und grünen Hämatomen. Eine Reihe von Stichen verlief bis in den Haaransatz hinein. Anya konnte sich nicht an eine Narbe erinnern; vielleicht hatte Ferrer einen guten plastischen Chirurgen konsultiert. Andere Fotos zeigten seine gebrochenen Rippen, übel zugerichteten Hände und unzählige blaue Flecken am Rücken. Anscheinend hatten die Räuber ihn dort sterben lassen wollen. Ferrer hatte einen Nierenriss erlitten und war auf einem Auge erblindet. Anya dachte an sein leichtes Humpeln, das ihr aufgefallen war, als sie ihn im Park beobachtet hatte.
Sie las sich die Notizen durch, die der zuständige Detective zu dem Fall niedergelegt hatte. Die jungen Männer konnten später mithilfe der Videoaufnahmen von der Kamera am Geldautomaten identifiziert werden. Zwei von ihnen waren Jugendliche gewesen und mussten bloß sechs Monate in einer Jugendstrafanstalt verbringen, bis sie mit dem Tag ihrer Volljährigkeit entlassen wurden. Der älteste Täter verbrachte ein Jahr in einem Staatsgefängnis.
Anya sah sich noch einmal das Foto des geradezu unkenntlichen Ferrer an. »Jetzt weiß ich, was dir passiert ist«, sagte sie zum Bild. »Aber das verrät mir immer noch nicht, wer du bist.«
Natürlich konnte sie seinen zerschlagenen Körper deutlich sehen. Das Offensichtliche konnte problemlos katalogisiert, fotografiert und analysiert werden.
Aber sie wollte in seinen Kopf vordringen.
Das Hauptgebäude der Detroit Public Library war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mithilfe von Spendenmitteln von Andrew Carnegie gebaut worden - wie viele Bibliotheken jener Zeit. Die Bücherei lag in der Innenstadt, ein wenig zurückversetzt an der Woodward Avenue. Sie gehörte zu jenen stattlichen Gebäuden, die im Stil der italienischen Renaissance gebaut waren. Terrassen führten in mehreren Stufen zum Eingang hinauf, über dem Bogenfenster wachten. Die Bücherei bestand aus dem gleichen hellen Kalkstein wie viele der standhaften, alten Gebäude Detroits. Anya konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand heute noch so viel Mühe in ein Archiv der menschlichen Errungenschaften stecken würde. Die Gewinnung von Naturstein war für eine Gesellschaft, die polierte Oberflächen aus Glas und Stahl bevorzugte, viel zu arbeitsintensiv.
Aber die alten Gebäude, die alten Bräuche und das überlieferte Wissen hatten etwas für sich. Auf dem Weg in die große Haupthalle der Bibliothek, deren Gewölbedecke von mächtigen dorischen Säulen gestützt wurde, passierte Anya ein farbenfrohes Mosaik, auf dem Menschen und Literaturzitate den River of Knowledge, den Strom der Weisheit, darstellten. Ein paar Obdachlose saßen schlafend in den Ecken. Dennoch herrschte an diesem Ort eine tröstliche Atmosphäre der Ruhe. Anya klemmte sich ihr Notizbuch unter den Arm und ging durch eines der Drehkreuze, hin zu den Regalen.
Seit sie das letzte Mal hier war, waren Jahre vergangen. Ihre Mutter, Bibliothekarin von Beruf, hatte sie während der Sommerferien jeden Tag hergebracht. Sie war weder in der Lage noch bereit gewesen, einen Babysitter zu bezahlen, nur damit Anya acht Stunden lang vor dem Fernseher geparkt wurde. In der Bibliothek würde ihrer Tochter wenigstens etwas Kultur zuteilwerden. Anya erinnerte sich, wie sie unter den farbenprächtigen Wandgemälden in der Kinderbuchabteilung gesessen und die Sommernachmittage mit Grimms Märchen oder den Fällen der Nancy Drew verbracht hatte. Sie hatte Bilderbücher über Dinosaurier durchgeblättert und Sparkys Silhouette auf
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