Flammenzorn
den Seiten mit dem Finger nachgezeichnet. Dabei hatte sie versucht sich vorzustellen, aus welcher Art Ei Sparky wohl geschlüpft sein mochte. Damals war der Bestand der Bücherei noch auf Kärtchen verzeichnet, die in hölzernen Karteikästen in Regalen untergebracht waren. Es gab Kärtchen zu jedem nur vorstellbaren Thema, und sie waren säuberlich sortiert nach Fachgebiet, Autor und Titel. Damit Anya mit ihren kleinen Fingern an die oberste Schublade kam, musste ihre Mutter sie hochheben. Zu jener Zeit war sie gerade in der zweiten Klasse gewesen, aber das Dewey-System, mit dem die Bibliothek ihre Bestände verwaltete, hatte sie auswendig gekannt.
Doch jene Tage lagen weit zurück. Die schweren Schränke mit dem Zettelkatalog waren nun fort, ersetzt von Computerterminals auf langen Tischen. Anya setzte sich an einen Rechner. Nachdem sie sich rasch einen Überblick über den Aufbau des Onlinekatalogs verschafft hatte, gab sie Ferrer, Drake in das Suchfeld ein.
Sie erhielt drei Treffer im Bestand: jeweils Erwähnungen in Architekturbüchern. Sie notierte sich die Regalnummern und stieg dann die große Wendeltreppe zu den oberen Stockwerken empor, um die Bücher zu suchen. Nachdem sie alle drei in den zugehörigen Regalen entdeckt hatte, schleppte sie sie zu einer Lesenische, um sich durch die Indizes zu arbeiten.
Das erste Buch war ein Who's who der Architekten, eine Ausgabe von 1997. Ferrer hatte einen eigenen Eintrag, in dem hervorgehoben wurde, dass der gebürtige Detroiter seinen Abschluss als Jahrgangsbester in den Fächern Städtebau und Architektur an der University of Michigan gemacht hatte. Er bekam danach ein Stipendium, mit dem er seine Promotion in Architektur erlangte, und publizierte seine Doktorarbeit: Klassische Architektur in Urbanen Inseln. Für seine Entwürfe und Skizzen gewann er mehrere renommierte Auszeichnungen, und er schloss sich einem Architekturbüro in der Innenstadt von Detroit an, das auf Stadtsanierung spezialisiert war.
Das zweite Buch enthielt ein von Ferrer verfasstes Kapitel zum Thema Denkmalschutz. Der Autor befleißigte sich eines überraschend warmherzigen Stils und sprach von Liebe zu den Wahrzeichen der Innenstadt von Detroit, die durch unachtsame Ausbesserungsarbeiten und die verheerenden Auswirkungen der Umweltverschmutzung an dem Kalkstein bedroht waren. Aus seinen Ausführungen ging klar hervor, dass Ferrer nichts vom Einsatz moderner Architektur hielt, die sich nicht in das bestehende Milieu einfügte.
In dieser Stadt hatte man jedes neue Gebäude für eine gute Sache gehalten, für ein Zeichen des Fortschritts. Nach Anyas Ansicht war Ferrers Herangehensweise, die voller sentimentaler ästhetischer Ansprüche war, unrealistisch. Vielleicht sogar elitär. Menschen brauchten zweckmäßige Umgebungen zum Leben und Arbeiten, und diese Umgebungen wegen ihrer Hässlichkeit zu verdammen kam ihr sinnlos vor.
Ein Fachbuch für Stadtplanung enthielt den Entwurf Ferrers eines utopischen Mischgebiets in der Innenstadt: eine grüne Parklandschaft inmitten von Reihenhäusern, Läden und Bürogebäuden. Die Pläne sahen durchaus ansprechend aus: Klinker und Sandstein, Parkraum abseits der Straßen und ein kleines Polizeirevier, zusammengestellt nach dem Vorbild japanischer Mischgebiete. Aber in Detroit hatte Anya noch nie etwas in dieser Art gesehen.
»Träumer«, sagte sie laut, lauter als beabsichtigt.
Ein leises Pssst hallte durch den Raum, und Anya erschrak. Sie hatte geglaubt, sie sei allein hier. Sie sah sich um und entdeckte eine geisterhafte Frauengestalt, die eine Phantombücherkarre den Gang hinunterschob. Sie trug eine Schlaghose und eine geblümte Hemdbluse, und auf ihrem Haar, das lang genug war, um ihr auf die Hüften zu fallen, thronte ein Makrameehaarband. Unter der Taille saß ein locker gebundener Fransengürtel.
»Tut mir leid«, sagte Anya. Sie spürte, wie Sparky sich von ihrem Halsreif löste, um über ihre Schulter einen Blick auf den Geist zu werfen.
Der Geist der Bibliothekarin blieb wie angewurzelt stehen. Dann trat die Frau einen Schritt zurück. Furcht glomm in ihren weit aufgerissenen Augen. »Sie haben mich gehört.«
»Ja. Aber ich tue Ihnen nichts.« Anya hob die Arme zu einer beruhigenden Geste.
»Aber Sie sind ... wie er.«
Anya war schon länger überzeugt, dass Geister etwas Außergewöhnliches an ihr wahrnehmen konnten. Vielleicht spürten sie die Hitze, die in ihrer Brust loderte, und wussten, dass sie sie ebenso leicht ausblasen
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