Flammenzungen
Rucksack?“
Er knöpfte sein Hemd auf und betastete seinen Bauch. „Hinter den Büschen.“
Bei dem Anblick seines haarlosen Brustkorbs wurde Amy ganz anders. Er musste viel trainiert haben, und diese Mühe zahlte sich aus. Sie konnte ihren Blick kaum von ihm abwenden.
„Lass nur. Ich hole meinen Kram selbst.“ Er wollte sich erheben, aber sie drückte seine Schulter nieder und hielt ihn davon ab.
Zögerlich schaute sie zu der Grenzbepflanzung, die tagsüber einen hübschen grünen Rahmen für den Hof bildete, doch nun in der Nacht bedrohlich wirkte. „Du kannst doch kaum gehen.“
Amy atmete tief durch. Sie umschloss den Griff des Colts, zog ihn jedoch nicht aus ihrer Handtasche und marschierte zwischen dem Buschwerk hindurch. Gleich dahinter fand sie den tarnfarbenen Beutel. Sie schulterte ihn, kehrte zu ihrem Auto zurück und legte ihn auf die Rückbank.
Was sollte sie nun mit Lorcan machen? Sie konnte ihn nicht zwingen, in ein Krankenhaus zu gehen. Genauso wenig brachte sie es übers Herz, ihn einfach zurückzulassen, zumal sie mit Schuld daran trug, dass er verprügelt worden war. Hätte sie ihm nicht entgegen der Regel einen Nachschlag vor Ende der Öffnungszeiten gewährt, hätte der Indianer auch keine Probleme gemacht. Zudem hatte Lorcan sie vor dem Krawallmacher beschützt. Dafür hatte er mit seinem Blut gezahlt. Auf keinen Fall würde sie sich nun aus der Verantwortung stehlen.
Sie stieg ein und startete den Motor.
„Ich weiß, du meinst es gut“, begann er sanft, doch dann gewann seine Stimme an Schärfe, „aber ich werde kein Krankenhaus betreten und diese arroganten Ärzte anbetteln, mich zu behandeln. Das mache ich nicht! Ich bin obdachlos, das bedeutet allerdings nicht, dass ich keinen Stolz mehr besitze.“
Warum stieg er dann nicht aus? Er blieb, wo er war, und schaute sie trotzig an. Was erwartete er von ihr? Mit einem Mal verstand sie. Er hatte eine Mauer um sich herum aufgebaut und war nun nicht bereit, sie einzureißen, nur weil ihn jemand in die Mangel genommen hatte. Er brauchte Hilfe, aber er würde es niemals zugeben. Wenn man auf der Straße lebte, wurde man entweder hart oder ging an dem Leben ohne feste Bleibe, ohne Arbeit und ohne soziale Bindungen zugrunde.
Amy verdrehte die Augen, beugte sich über ihn und schloss die Beifahrertür. „Keine Sorge, ich erwarte nicht einmal ein Dankeschön von dir.“
„Du wirst die Klinikrechnung nicht für mich zahlen, Amy!“ Sachte packte er ihre Schultern und hielt sie davon ab, sich auf ihre Seite des Autos zurückzuziehen.
Es war das erste Mal, dass er ihren Namen aussprach. Sie lächelte in sich hinein und bemühte sich, ihn nicht spüren zu lassen, wie nervös seine Nähe sie machte. Seine durchdringenden blauen Augen, sein gestählter nackter Oberkörper und sein männlicher Duft lenkten sie einen Moment von dem ab, was sie sagen wollte.
Glücklicherweise fiel es ihr wieder ein. „Ich habe mehr Geld als du, keine Frage, aber ich bin alles andere als reich, sondern schlage mich so durch. Tut mir leid, du musst dich mit dem LaBauve-Lazarett begnügen.“
Sie riss sich von ihm los und lenkte ihren Wagen vom Parkplatz, bevor sie darüber nachdenken konnte, dass sie gerade dabei war, einen wildfremden Mann mit nach Hause zu nehmen. Sie musste verrückt sein, ein derartiges Risiko einzugehen. Aber es ging ja auch nicht um irgendeinen Gast der Essensausgabe, sondern um Lorcan.
„Du bringst mich zu dir nach Hause?“, fragte er erstaunt.
Hatte sie eine andere Möglichkeit? Außer Seth befand sich kein anderer Mitarbeiter im Asyl, und der Wachmann würde Lorcan lieber die letzten Rippen auch noch brechen, anstatt ihn zu verarzten. Stark verletzt schien Lorcan ohnehin nicht zu sein, denn er atmete ruhig, und das Blut in seinen Wunden gerann bereits. Sie würde ihn versorgen, ihm einen starken Kaffee aufbrühen und ihm Zeit geben, sich zu erholen. Dann würde sie ihn bitten, wieder zu gehen. Allein bei dem Gedanken fühlte sie sich mies, aber sie war nicht so dumm, sich von seinem guten Aussehen vollkommen blenden zu lassen. Es war riskant, ihn in ihr Haus zu lassen, denn sie wohnte allein.
Während der Fahrt von New Orleans über die Huey P. Long Bridge zu ihrem Heimatort, der nach dem Senator George Augustus Waggaman benannt war, schwiegen sie.
Amy lebte gerne in der Zehntausend-Einwohner-Gemeinde am Westufer des Mississippi. Hier gab es zwar keine Multiplex-Kinos und Boutiquen, dafür aber eine niedrige
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