Flammenzungen
Gavin immer noch so, obwohl er im Büro nur das Nötigste mit ihm sprach? Etwas perplex öffnete Lorcan den Mund, wusste aber nicht, was er entgegnen sollte, und schwieg. Er sollte wohl diese Freundschaft mehr wertschätzen, als er es in letzter Zeit getan hatte, immerhin kannte er Gavin länger als jeden anderen seiner Kumpels.
„Immer wenn ich mit einem Mann rede, denkt er, es könnte etwas zwischen dem Fremden und mir laufen. Obwohl wir nicht einmal Frühling haben, scheinen zurzeit alle in Flirtlaune zu sein. Das macht es nicht gerade einfacher.“ Lorcan verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Was meinst du damit?“
„Ach nichts.“
Eigentlich hatte er Kimora schon aufgegeben, aber nun war sie frei und die Situation eine andere. Bei dem Anblick der Plastiktüten, die sie trug, spürte er ein Ziehen in der Brust. Weihnachten stand vor der Tür. Wie schön wäre es, die festlichste Zeit des Jahres einmal nicht nur mit seinen Eltern zu verbringen, sondern mit einer Frau. Vor seinem geistigen Auge sah er sich mit Kimora an Heiligabend an der Tafel seiner Familie sitzen. Er stellte sich vor, wie sie am ersten Feiertag auf der künstlichen Eisbahn, die jedes Jahr während des „Celebration in the Oaks“-Lichterfestivals im New Orleans City Park aufgebaut wurde, Händchen haltend Schlittschuh liefen und am zweiten im Bett liegen blieben, Haut an Haut. Diesen Luxus hatte er in seinem Leben selten genossen. Seine Beziehungen hätten nie lange gehalten. Aber je älter er wurde, desto mehr sehnte er sich nach Beständigkeit.
Spontan fragte er: „Darf ich dich zum Mittagessen ins French Quarter einladen?“
„Nein, danke.“ Sie wandte sich von ihm ab, blieb jedoch stehen, als er nachhakte.
„Wirklich nicht? Auf einen Snack vielleicht? Ihr wohnt nicht einmal mehr zusammen, du bist ihm nichts schuldig, außerdem bleiben wir an einem öffentlichen Ort. Ich entführe dich nicht in einen Hinterhof, um wollüstig über dich herzufallen.“ Er lachte verlegen, weil seine Anspielung auf ihre gemeinsamen Stunden schal klang.
Pikiert kräuselte sie die Nase und machte einen Schritt zurück, worauf er die Hände hob. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Es geht nicht.“ Erneut schaute sie sich um, als wäre ihr jemand auf den Fersen.
„Spioniert Gavin dir hinterher?“
„Red keinen Unsinn.“ Sie nahm die Tüten in die andere Hand und betrachtete den roten Abdruck in ihrer Handfläche. „So etwas würde er nie tun.“
Wich sie absichtlich seinem Blick aus, weil sie selbst nicht an das glaubte, was sie soeben geäußert hatte? „Du hast gesagt, er klammert sich nachts an dich wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz. Was glaubst du, zu was Menschen fähig sind, wenn sie verzweifelt sind?“
„Es war nett, dich wiederzutreffen.“
„Kimora.“ Er hielt sie am Arm fest.
Ungehalten riss sie sich los. „Auf Wiedersehen, Lorcan.“ Dann eilte sie davon.
Seufzend fuhr er sich durchs Haar. Er hatte es mal wieder verbockt. Unauffällig schaute er in alle Richtungen, aber die Spaziergänger beachteten Kimora nicht. Vielleicht litt sie unter Verfolgungswahn. Die Trennung von Gavin schien ihr sehr nahezugehen. Möglicherweise hatte sie aber auch Angst vor ihm. Er erinnerte sich an ihr Gespräch im Oktober.
„Wenn Gavin uns erwischt, flippt er aus“, hatte sie gesagt. „Ausflippen, er? Niemals. Er macht seinem Ärger nie Luft.“
„Du hast keine Ahnung, wie er wirklich ist.“ „Entschuldige bitte, Kimora, aber ich kenne ihn schon fünfzehn Jahre länger als du.“
„Du hast allerdings nie mit ihm zusammengelebt. Zu Hause verhalten sich die Menschen immer anders. Gavin ist sehr eifersüchtig, doch er würde das nie jemand anderem zeigen außer mir.“
„Eifersüchtig habe ich ihn noch nie erlebt.“
„Er war auch noch nie so verliebt wie in mich, sagt er zumindest.“
Lorcan folgte Kimora in einigem Abstand, um sicherzugehen, dass sie unbehelligt an ihr Ziel kam. Und weil er Wissen wollte, wo Kimora untergeschlüpft war.
19. KAPITEL
August dieses Jahres
New Orleans, NO Public Library
„Lass uns nach Hause fahren,“ Lorcan packte ihren Arm, zog sie ¿in Stück vom Computer weg und schloss die Datei, die sie sich angeschaut hatte.
„Nein.“ Energisch riss sich Amy los. In dieser angespannten Situation wollte sie auf keinen Fall allein mit ihm sein. Sie fürchtete sich nicht ernsthaft vor ihm, dazu hatte er ihr nie einen Anlass gegeben, und außerdem war sie zu
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