Flammenzungen
vielleicht.“ „Was machst du?“ Mit einer Handfläche rieb er sich durchs Gesicht, als würde ihm das helfen, wach zu werden. „Wieder nach diesem gebrauchten Rock suchen, der gerade modern ist, den du dir aber neu nicht leisten kannst?“ Das hatte er sich gemerkt? Die Art, wie er das sagte, ließ sie erahnen, dass er wusste, dass sie geflunkert hatte. Schon einmal hatte er sie dabei erwischt, wie sie im Internet seinen Namen gegoogelt hatte. „Soziale Netzwerke. Warum bist du auf?“
„Ich musste mal.“ Anstatt auf die Toilette zu gehen, setzte er sich jedoch ihr gegenüber auf den Stuhl. Mit gespreizten Fingern kämmte er seine Haare zurück, die wie eine Löwenmähne abstanden, da sie gemeinsam nachts noch geduscht hatten. Während Amy sich ihren Schopf rasch trocken geföhnt hatte, war er mit nassem Kopf ins Bett gegangen. Das hatte er nun davon. Und es stand ihm sogar unverschämt gut.
Amy wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich an diesem Morgen belauerten. Blinzelte er sie argwöhnisch an, oder waren seine Augenlider lediglich halb geschlossen, weil er noch müde war? Warum ging er dann nicht wieder ins Bett? Wollte er sie kontrollieren? Das würde er nicht schaffen.
Ihr wurde klar, dass sie in den eigenen vier Wänden nicht mehr unbeobachtet war, und entschied, ihre Nachforschungen in der Bibliothek fortzusetzen. Demonstrativ schloss sie ihr Notebook und schob es von sich fort. „Ich habe mir spontan überlegt, zu meinen Eltern zu fahren und mit ihnen zu frühstücken. Meine Mutter sprach mich schon auf der Arbeit an, ob ich noch leben würde, weil ich mich nicht bei ihnen melde. Gegen Mittag bin ich wieder zurück. Dann suchen wir weiter nach einer Bleibe für dich.“
„Mir fiele etwas Besseres ein, das wir machen könnten.“ An seinem frivolen Unterton erkannte sie, dass trotz Müdigkeit seine schmutzige Fantasie bereits aktiv war. „Willst du denn nicht wieder zurück in die Gesellschaft finden?“ Er lehnte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. „Die Gesellschaft hat mir in den Arsch getreten.“
Sie sah den Moment gekommen, ihn auf die Mordvorwürfe anzusprechen, doch sie traute sich nicht. Was würde geschehen, wenn sie ihn in die Ecke drängte? Würde er seine Krallen ausfahren und sich verteidigen? Ein Mann vieler Worte war er bisher nicht gewesen. Er hatte selbst gesagt, dass die Justiz ihm nichts hatte nachweisen können, was aber keineswegs bedeutete, dass er unschuldig war. Und wenn er den Mord doch begangen hatte? Würde er nicht zögern, sie ebenfalls zu töten, um sie zum Schweigen zu bringen oder einfach nur um seinen Frust an ihr abzureagieren? Ihn direkt zu konfrontieren schien ihr zu riskant, zumal sie allein mit ihm war. Das würde sie sich nur wagen, wenn Skyler oder Nabil ihr den Rücken stärkten.
„Warum zeigst du ihr nicht den Stinkefinger und stehst wie Phönix aus der Asche wieder auf?“ Nervös rollte sie den Bund ihrer Bluse ein und glättete ihn sogleich wieder. Wann hatte er auf gehört zu kämpfen? In dem Moment, als die Handschellen klickten oder als er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde und seine Freunde und Bekannten ihn schnitten?
„Ich bin nicht so stark, wie du glaubst.“ Er stand auf und ging zurück ins Bett - ohne das WC benutzt zu haben.
Also hat er mich doch kontrollieren wollen, stellte sie ernüchtert fest. Allein durch sein Auftauchen hatte er ihr mitgeteilt: Ich bekomme mit, wenn du dich gegen mich wendest. Aber dann hallten seine letzten Worte in ihr wider. Eben noch hatte sie sich vor ihm gefürchtet, jetzt tat er ihr leid. In einem Moment sah er wie ein Berserker aus, im nächsten wie ein geprügelter Hund. Welches war sein wahres Gesicht?
Sie nahm ihre Handtasche und verließ das Shotgun House, absichtlich ließ sie den Laptop auf dem Tisch, damit Lorcan sich in trügerischer Sicherheit wähnte.
Die Jefferson Parish Library lag Waggaman am nächsten, aber sie war recht klein, und die Räume erinnerten eher an Klassenzimmer. Amy fuhr lieber zur New Orleans Public Library auf der Loyola Avenue in Midtown. Während sie die Treppe ins zweite Obergeschoss nahm und die Abteilung mit den digitalisierten Zeitungen betrat, fragte sie sich, ob sie nicht in Wahrheit nach Beweisen für Lorcans Unschuld suchte. Sie wünschte sich so sehr, dass alles ganz anders war, als es erschien, dass er tatsächlich unschuldig war und sich alles klären würde. Damit sie eine Zukunft hatten.
„Das ist doch verrückt“,
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