Flaschendrehen: Roman (German Edition)
Ben war für mich ein Mysterium, das ich trotzdem wahrscheinlich besser begriff als sonst etwas auf der Welt.
Je länger wir nichts sprachen und uns nur anblickten, umso heißer wurde mir, abgesehen von der Gänsehaut im Nacken. Langsam, voneinander angezogen, bewegten wir uns aufeinander zu. Sein Blick drückte so viel Verlangen und Sehnsucht aus, dass mir schwindelig wurde. Dieses eine Mal würde ich nicht zurückschrecken, ihn zu küssen, und wenn es das erste und letzte Mal war. Kostbare Momente waren so vergänglich und selten, und auf diesen hier wartete ich, seit ich dreizehn war.
Ben legte sanft, aber mit Nachdruck eine Hand auf meine Wange und zog mein Gesicht ganz langsam an seines heran.
»Gretchen …« war alles, was er leise sagte, allerdings so zärtlich, dass ich fast zu atmen vergaß.
Mein Mund suchte zitternd seinen. Er war mir so nahe, und als er mich endlich küsste, war es, als würde ich mich in seinem Innersten verlieren. Ich küsste nicht irgendwen, ich küsste Ben, in den ich verliebt war, seit ich mich für Jungs interessierte, Ben, dem ich schlaflose Nächte zu verdanken hatte, der mich dazu gebracht hatte, fast durchzudrehen durch seine Abweisungen, ich küsste eine verwandte Seele.
Dieses Gefühl war unbeschreiblich, es ging weit über ein körperliches Gefühl hinaus. Wir waren eins, die Verbindung, die ich immer schon gespürt hatte, war so offensichtlich, dass ich zu weinen begann, vor Glück.
Ben trocknete mir die Tränen und sprach beruhigend auf mich ein.
»Hey, es ist alles gut!«
Er küsste mich erneut, dieses Mal wilder und fordernder. Was dann folgte, war so intensiv, dass ich keine Kontrolle mehr hatte über das, was geschah. Lange, viel zu lange waren diese Gefühle angestaut und konnten endlich an die Oberfläche. Unsere Berührungen waren stimmig und intensiv. Es war, als ob ich endlich angekommen war. Noch nie hatte ich einen glücklicheren Moment mit einem Menschen erlebt.
Bewegungslos hielten wir uns fest, als wollten wir uns nie wieder loslassen. Gleichgültig, was passierte, allein für diesen Moment hatte es sich gelohnt zu warten, zu leiden, zu hoffen, zu leben. Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht, Ben und ich waren füreinander bestimmt, und wenn er das nicht auch spürte, war die Erde eine Scheibe.
Er küsste mich immer und immer wieder und wollte mich überhaupt nicht mehr loslassen.
Am nächsten Morgen wurde ich von einem dumpfen Geräusch wach. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es eine Tür gewesen sein musste, die ins Schloss gezogen worden war. Sofort griff ich neben mich, aber das Bett war leer.
Benommen von der kurzen Nacht, stand ich auf und suchte nach Ben. Statt seiner fand ich einen gedeckten Frühstückstisch mit frischen Brötchen. Allerdings war nur für mich gedeckt, ein Zettel von Ben lag auf meinem Teller.
»Entschuldige, aber ich kann nicht aus meiner Haut. Es ist komplizierter, als ich dachte.«
Ich schluckte die aufkeimende Enttäuschung hinunter, aber eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Ben war mit Liv zusammen, warum sollte er sich trennen, er, der alltägliche Beziehungen für zum Scheitern verurteilt ansah. Mit dem ersten Kuss hatte ich keine Sekunde mehr an Liv gedacht, ich hätte an überhaupt niemanden denken können außer an Ben. Aber jetzt packte mich das schlechte Gewissen Liv gegenüber umso heftiger. Wie konnte ich, der erst vor kurzem dasselbe zugefügt wurde und die bitterlich darunter gelitten hatte, jetzt einer anderen Frau dasselbe antun? Wie war das? Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein! Die Steine würde ich ab heute mal schön am Boden liegen lassen und stattdessen die Geißel zur Selbstgeißelung meiner Sünden einsetzen.
Trotzdem konnte ich diese Nacht nicht als etwas Schlechtes betrachten. Dafür hatte es sich zu wahrhaftig angefühlt und überhaupt nichts Verwerfliches an sich gehabt, im Gegenteil.
Zuerst wollte ich niemandem etwas von dieser Nacht erzählen, dann entschied ich mich, Leila anzurufen, sie würde mich verstehen.
Leila war gerade auf dem Kollwitzmarkt einkaufen, wie jeden Samstagmorgen, und fragte, ob wir uns nicht im Sisters Café treffen wollten.
Ruckzuck war ich geduscht und angezogen und machte mich auf den Weg.
Ich setzte meinen I-Pod auf und hörte den Mix, den mir Ben zu Weihnachten gebrannt hat. Bei Colorblind musste ich schlucken. Der Text fasste so ziemlich zusammen, was Ben nach letzter Nacht auf den Zettel geschrieben hatte – »… ich
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